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Bielefelder Tageblatt (MW) / Neue Westfälische , 26.05.2005 :

Mutter sagte: "Wir bleiben hier." (Senioren schreiben / Spezial)

Wir warten auf den Pferdewagen, der die Mutter mit uns drei Töchtern aufs Land zu Freunden bringen soll. Dort wollen wir in Sicherheit das Kriegsende abwarten. Noch einmal geht die Mutter mit mir, der 16-jährigen Ältesten, durchs Haus. Plötzlich sagt sie entschlossen: "Wir bleiben hier. Papi hat in seinem letzten Brief aus Russland geschrieben: Wenn alles zu Ende geht, bleibt am Ort, sonst weiß ich nicht, wo ich euch suchen soll, wenn ich nach Hause komme."

Minden: Dumpfe Schläge aus Richtung Kanal dringen bis in den Keller unseres Hauses. In aller Eile haben Mutter und ich einen Abstellraum in ein "gemütliches" Wohn- und Schlafzimmer umgestaltet. Dort leben nun Großmutter, Mutter mit drei Kindern (16, 8 und 1 Jahr alt), der Betreuer meiner Großmutter mit Frau und zwei Töchtern und ein altes Ehepaar aus der Nachbarschaft. Ängstlich hören wir den Lärm; wir wissen, als Ersatz für die von den abrückenden Nazis gesprengte Brücke wird in aller Eile ein Behelf über den Kanal gebaut. Aber wer rückt an, Amis, Tommys oder gar Russen?

Unser einziger männlicher Beschützer, 72 Jahre alt, geht noch einmal ums Haus und kommt kreidebleich zurück: "Im Eingang hinter einer Torsäule hat sich einer versteckt. Er hat eine Panzerfaust und will sie auf den ersten einfahrenden Panzer abschießen." Meine Mutter fleht den Jungen in Uniform an: "Dies ist das einzige Haus in dieser Straße, in dem sich noch Menschen aufhalten. Hier befinden sich drei Kinder im Keller, wir alle wären gefährdet, wenn Sie Ihren unglückseligen Plan durchführen." Der fanatisierte Junge sagt: "Der Führer setzt in Kürze die Wunderwaffe ein, wir werden siegen." Mutter beschwört ihn: "Junge, geh nach Haus. Ich gebe dir Zivilklamotten, dann bist du sicher. Wirf die Höllenmaschine weg."

Hasserfüllt schreit er: "Volksverhetzerin! Ich werde dafür sorgen, dass Sie hängen, wenn wir gesiegt haben." Am Mittwoch, 4. April 1945, besetzen die Kanadier Minden. Vom Jungen mit der Panzerfaust haben nie wieder etwas gehört.

Minden wird englische Besatzungszone, das Leben normalisiert sich langsam. Der tägliche Kampf ums Überleben wird bestimmend. Der Vater kommt, abgehärmt und seelisch gebrochen, mit dem Fahrrad aus Russland heim. Übrigens, der Bauernhof, in dem wir Zuflucht finden wollten, wurde in Brand geschossen, weil die Kanadier geflüchtete deutsche Soldaten dort vermuteten.

Gerda Kobusch

26./27.05.2005
lok-red.bielefeld@neue-westfaelische.de

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