www.hiergeblieben.de

Bielefelder Tageblatt (MW) / Neue Westfälische , 26.05.2005 :

Vor den Russen im Mehl versteckt / Flucht aus Breslau zur tschechischen Grenze / Soldat wollte Baby entführen (Senioren schreiben / Spezial)

Gegen Kriegsende flohen wir vor der Front aus Breslau an die Grenze zur Tschechei nach Leitomichl. Meine Mutter, meine Tante und wir drei Geschwister, acht, sieben und knapp ein Jahr alt, kamen bei einer Familie unter, die, wie alle in diesem Dorf, zwar ein Haus besaß, das aber jeweils aus nur einem Zimmer bestand. Wir waren mit zehn Personen dort zusammengepfercht.

Die Eroberung durch die Russen folgte und damit ihre ständigen "Besuche" aus ihren Lagern. Sie plünderten und vergewaltigten. Vor allem für junge Frauen war es schrecklich. Sie schliefen zum Teil auf dem Friedhof in Särgen, für die extra Gräber ausgehoben worden waren, damit sie überhaupt einmal zur Ruhe kamen.

Eines Morgens kam wieder ein Soldat, räumte das letzte bisschen Essvorrat aus und sah sich um, was er noch mitnehmen könne. Da erblickte er meine Schwester, noch nicht ganz ein Jahr alt, und bedeutete meiner Mutter, dass er das Baby haben wolle für seine Frau zu Hause. Natürlich weigerte sie sich, und er ließ es erst einmal dabei. Aber am Abend kam er mit einem Kameraden zurück, beide ziemlich betrunken, und forderte erneut das Baby. Er entriss es meiner Mutter, warf es auf den Boden und hielt ihr das Gewehr vor die Brust. Er machte keinen Hehl daraus, dass er meine Mutter erschießen würde, gäbe sie ihm nicht meine Schwester. Uns stockte der Atem. Meine Mutter hob das Kind wieder auf, hielt es sich vor die Brust und machte ihm klar, dass er sie dann schon beide erschießen müsse.

Inzwischen hatte der andere Soldat meine Tante entdeckt. Er fragte sie, ob sie kochen könne, und wenn ja, solle sie mit ins russische Lager kommen. Jeder hatte entsetzliche Angst vor der Unberechenbarkeit der Besatzer, aber meine Tante hätte sich lieber erschießen lassen, als mit ihm zu gehen. In einem unbemerkten Augenblick schnappte sie mich und floh mit mir zur Tür hinaus. Als die beiden das merkten, schossen sie wie wild, was andere Soldaten auf den Plan rief.

Meine Tante gab mich im nächsten Haus ab. Es wurden nun alle Gebäude durchsucht. Die Familie hatte mich unter einem Bett versteckt, wo ich entsetzlich fror und grässliche Angst hatte. Zunächst fanden sie mich nicht, aber dann kam einer, der auch unters Bett schaute. Er musste mich gesehen haben, aber er ließ er mich liegen. Daraufhin versteckte die Familie mich in einer großen Mehlkiste, wo ich wieder längere Zeit lag und fror. Draußen wurde auf der Suche nach meiner Tante weiter geschossen.

Dann kam erneut ein Soldat, durchsuchte alles und öffnete schließlich auch die Mehlkiste. Ich muss inzwischen zum Erbarmen ausgesehen haben. Hat ihn das gerührt? Ich weiß es nicht, aber er schloss die Kiste wieder.

Irgendwann beruhigte sich die Lage, sie waren offenbar des Suchens müde geworden. Meine Mutter hatte bereits das bisschen gepackt, das wir besaßen. Zum Glück war meine Tante entkommen und fand sich wieder ein. So machten wir uns in den frühen Morgenstunden zu Fuß auf nach Hause, ein Marsch von mehreren Tagen. Meistens gingen wir nur nachts, weil wir Angst hatten, tagsüber wieder Russen in die Hände zu fallen. Wir kamen heil im zerbombten Schlesien an.

Christa-Maria Trautmann


lok-red.bielefeld@neue-westfaelische.de

zurück