Bielefelder Tageblatt (MW) / Neue Westfälische ,
26.05.2005 :
Besseres Essen im russischen Lager / Panik im deutschen Lazarett wegen Roter Armee (Senioren schreiben / Spezial)
Als 20-jähriger Soldat kam ich mit meiner Einheit, der Kriegsschule Weilburg/Wetzlar, als letzte Reserve im April 1945 im Infanterieeinsatz an die Oderfront zwischen Frankfurt und Küstrin. Die Rote Armee hatte schon mehrere Brückenköpfe über die Elbe gebildet, und wir sollten diese gegen eine große Übermacht wieder zurückerobern. Viele Kameraden starben so noch so kurz vor Kriegsende.
Beim Rückzug auf Berlin wurde ich in Fürstenwalde verwundet und mit anderen Verletzten unter Artilleriebeschuss und Fliegerangriffen in ein Lazarett nach Genthin gebracht. Das war Ende April 1945. Als die Russen immer näher kamen, wurden wir nach Magdeburg ans Ostufer der Elbe verlegt, im Einzugsbereich der Russen, was in Jalta so beschlossen worden war.
Wir hatten also das Pech, dann in russische Gefangenschaft zu geraten. Als die Rote Armee nur noch wenige Kilometer entfernt war und Gerüchte über Vergewaltigungen und Erschießungen bekannt wurden, gab es eine Panik im Lazarett.
Die deutsche Verwaltung einschließlich einiger Ärzte und Pflegepersonal hatte versucht, sich über die Elbe gen Westen abzusetzen. Da wir ja zum Teil noch unsere Pistolen hatten, haben sich einige der verwundeten Offiziere - meist Angehörige der Waffen-SS - kurz vor Eintreffen der Russen selbst erschossen. Dies war am 3. oder 4. Mai, also noch vor dem offiziellen Kriegsende am 8. Mai 1945.
Nachdem die Russen das Lazarett besetzt hatten, tat sich erst nichts. Was uns aber sehr erstaunte, war die sofortige Besserung unserer Verpflegung und der medizinischen Versorgung. Eine russisch-deutsche Ärztekommission untersuchte alle Verwundeten. Wir waren sowjetische Kriegsgefangene und mussten mit der Zuweisung in ein Auffanglager rechnen. Wer also als gehfähig bezeichnet wurde - und dazu gehörte auch ich -, musste den Fußmarsch in dieses Auffanglager in der Nähe von Berlin antreten.
Von den dortigen 22.000 Gefangenen wurden zirka 17.000 entlassen. Dies waren Kinder und Jugendliche, die direkt von der Schule noch in den Kampf geschickt worden waren, sowie ältere Soldaten. Der Rest von zirka 5.000 Gefangenen im Lager setzte sich zusammen aus Offizieren, Angehörigen der Waffen-SS und Nazi-Funktionären. Als junger Offizier gehörte ich zu dieser Gruppe und wurde Anfang September 1945 nach Russland transportiert, von wo ich erst nach viereinhalb Jahren am zweiten Weihnachtstag 1949 in die Heimat zurückkehrte.
Siegfried Wohlleben
26./27.05.2005
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