Bielefelder Tageblatt (MW) / Neue Westfälische ,
26.05.2005 :
Überlebt im Todeslager / Samuel Willenberg berichtete, was er in Treblinka erlebt hat
Von Conrad Schormann
Bielefeld. "Die Endlösung der Judenfrage": Samuel Willenberg hat sie gesehen. Er hat brennende Leichen gerochen, ist von einer Kugel getroffen worden und dem Tod mehr als ein Mal knapp entwischt. Am Dienstag sprach er in Bielefeld über das Überleben und den Aufstand im Vernichtungslager Treblinka.
Vom gebürtigen Polen, Jahrgang 1923, stammen Zeichnungen, anhand derer Historiker sehen, wie die Vernichtungsmaschine Treblinka arbeitete. Willenberg hat Pläne gezeichnet und als Bildhauer seine Erlebnisse verarbeitet. Seine Skulpturen stehen für Begegnungen und Episoden, Unmenschliches und Tragisches in einer von getarntem Stacheldraht umzäunten Hölle.
Nach 20 Stunden Fahrt im Güterwaggon stoppte sein Zug am Lager, in dem etwa 900.000 Menschen starben. Wie einen Bahnhof hatte die SS diese Endstation gestaltet, um den Ankömmlingen bis zuletzt zu verheimlichen, dass sie sterben werden. Am Tor sortierten ukrainische SS-Schergen die Häftlinge: Frauen links in die Baracke, Männer rechts aufstellen.
"Ein Junge mit einer roten Armbinde kam mir bekannt vor", sagt Willenberg. "Sag, du bist Maurer", riet ihm der Junge. Ein Rat, der Willenbergs Leben rettete. Er wurde einem der Arbeitskommandos zugeteilt, die das Gepäck der Todgeweihten sortierten oder beim Vergasen und Verbrennen der pausenlos anrollenden Menschentransporte halfen. Der Junge mit der Armbinde, stellte sich heraus, "war mein Freund Alfred. Der hatte in den 30er-Jahren in derselben Straße gewohnt wie ich."
Der Sinn des Lagers, die Vernichtung menschlichen Lebens, offenbarte sich dem zum Sortieren eingesetzten Neuankömmling bald. "Gruben mit brennenden Leichen" sah Willenberg, und er erfuhr, wie die Aufschrift "Lazarett" die Besucher dieser Baracke verhöhnte. In Erwartung einer medizinischen Untersuchung zogen sie bereitwillig ihre Kleidung aus. Und wurden erschossen. "Vor allem Alte" kamen ins Lazarett, auch der Veteran, der darauf pochte, für Deutschland gekämpft zu haben. "Die haben ihn zum Rand der Grube gebracht und dann erschossen." Willenberg zeigte seine Skulptur des Mannes am Grubenrand.
Mitten im Lager türmte sich ein Berg aus Koffern, Kleidung und anderer Habe der Ermordeten auf. In diesem Berg fand der zum Sortieren abkommandierte Willenberg den Mantel seiner Schwester. Am grünen Stoff, mit dem seine Mutter den Mantel verlängert hatte, erkannte er das Kleidungsstück. "Danach habe ich den Rock meiner anderen Schwester gefunden." Beide starben in Treblinka.
Vor allem fürchtete Willenberg den "Todesengel", einen eleganten SS-Mann, der vom Kleiderberg aus Häftlinge erschoss und seinen Bernhardiner abgerichtet hatte, Menschen Körperteile oder Geschlechtsorgane auszureißen. Willenberg war bestraft – verprügelt – worden, lag wegen einer eiternden Wunde im Fieber, und arbeitete am nächsten Tag schlecht. "Bist du nicht gesund?", fragte der Todesengel, und Willenberg dachte: "Das ist mein Ende." Das dachte er auch, als drei Gefangene geflohen waren und die Wachen die restlichen vor einem MG antreten ließen. 200 starben, Willenberg lebte.
Auch den Aufstand im Todeslager überlebte er. Über mit Stacheldraht gesicherte Panzersperren hatten einige der 1.000 Häftlinge zu fliehen versucht. MG-Salven mähten sie nieder. Willenberg gelang es, über die Leichen zu klettern. Er war frei, angeschossen zwar, aber einer von 200, die den Aufstand überlebten. Er schlug sich nach Warschau durch, kämpfte beim Aufstand im Ghetto gegen die Deutschen, überlebte wieder als einer von wenigen und versteckte sich im Wald. Dort fanden ihn russische Soldaten.
Nach dem Krieg berief ihn die polnische Armee. 1946 ließ er sich freistellen. Samuel Willenberg ist Künstler.
26./27.05.2005
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