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Prof. Dr. Arno Klönne , 02.09.2000 :

"Die Gegenwart bewältigen" Redebeitrag am Antikriegstag 2000: Blumen für Stukenbrock

Als das hitlerdeutsche Regime im Frühjahr 1945 unterging und auch in Stukenbrock die Tore des Lagers sich öffneten, haben diejenigen, die eine qualvolle Gefangenschaft überlebt hatten, ein Zeichen der Erinnerung an ihre toten Kameraden gesetzt, an die Verhungerten, die Ermordeten, die durch Lagerelend und Fronarbeit zu Tode Gebrachten.

Es war ein Zeichen der Erinnerung an Kriegsgefangene, denen Hitlerdeutschland jene minimalen Rechte verweigert hatte, die bis dahin für die Behandlung von Gegnern im Krieg galten oder gelten sollten, zusammengefasst in dem Satz: Auch der gegnerische Soldat sei, wenn er waffenlos dastehe, als Kamerad zu behandeln. Exakt diese Regel war von der deutschen politischen und militärischen Führung für den Umgang mit sowjetischen Gefangenen außer Geltung gesetzt worden, was massenmörderische Konsequenzen hatte. Diese Außerkraftsetzung der letzten, für gefangene gegnerische Soldaten sonst noch geltenden Rechte war bewusst und planmäßig geschehen; keineswegs war sie die ungewollte Folge eines barbarischen Kriegsgeschehens. Schon Monate vor Beginn des "Ostfeldzuges" hatten Adolf Hitler und seine obersten militärischen Gefolgsleute festgelegt: Der Soldat oder der Gefangene aus der Sowjetunion sei nicht als "gegnerischer Kamerad" anzusehen, sondern als Objekt eines Vemichtungskampfes.

Daran zu erinnern, ist heute in der Bundesrepublik Deutschland notwendig - immer noch und schon wieder. Hierzulande regen sich erneut rechtfertigende Legenden, über den Zweiten Weltkrieg insgesamt und speziell über den Krieg gegen die UdSSR. Sie werden in sozusagen gesellschaftsfähiger Form in akademischen Kreisen fabriziert, medial verarbeitet, und in ihrer plumpen Umsetzung bilden sie einen Teil des Weltbildes von jungen Rechtsextremisten, was Auswirkungen hat, die keineswegs akademischer Natur sind.

Das "Dritte Reich", so wird in diesen Legenden erzählt, habe 1941 in "Notwehr" gehandelt, als es ins sowjetische Territorium einfiel; die deutschen Truppen seien einer sowjetischen Angriffsabsicht zuvorgekommen. Unmenschlichkeiten seien dann unvermeidliche Nebenerscheinungen eines modernen Flächenkrieges gewesen, seiner riesigen Dimension und unerbittlichen Formen.

Die historische Wahrheit sieht anders aus. Der gewalttätige "Germanenzug nach Osten", die kriegerische Landnahme in Polen und in der UdSSR, die Versklavung und Vernichtung der dort ansässigen "minderwertigen" Bevölkerung - das alles gehörte zu den grundlegenden imperialen Absichten der hitlerdeutschen Politik, längst vor 1941. Es ging dabei auch um expansive wirtschaftliche und um bevölkerungspolitische Interessen, um Raum und Ressourcen, um Rohstoffe und um Arbeitssklaven; anders hätte die Naziführung die damaligen wirtschaftlichen und militärischen Eliten Deutschlands nicht als Partner gewinnen können. Allerdings traf brutale Interessenpolitik mit ebenso brutaler Ideologie zusammen, mit Vorstellungen vom „östlichen Untermenschentum" und von dem „jüdisch-bolschewistischen Weltfeind". Antikommunismus und Antisemitismus als massenhaft verankerte Feindbilder ließen sich nutzen für einen „Weltanschauungskrieg", der von vornherein als Vemichtungskampf definiert war, von der Parteiführung und von der Militärkaste. Elend und Tod von zigtausenden Kriegsgefangenen in einem Lager wie dem in Stukenbrock waren nicht "Entgleisungen" in den Wirren des Krieges, sondern es handelte sich um programmierte Unmenschlichkeit. Den Gefangenenlagern vorgeschaltet waren die Mordaktionen hinter der Front, in den besetzten Gebieten des Ostens; die deutschen Einsatzkommandos und ihre Helfershelfer waren darauf aus, Juden und Kommunisten auszurotten, und auch das geschah nicht durch die Willkür kleiner Nazifunktionäre, sondern systematisch, unter der Regie der SS und der Wehrmachtsführung. Soviel zur historischen Klarstellung.

In diesen Tagen wird in der Bundesrepublik ein "Ruck gegen rechts" gefordert. Diese Aufforderung bleibt geschichtlich blind, wenn sie sich der selbstkritischen Frage fernhält: Was war es denn, was nach 1945 den offenen oder verdeckten Fortbestand rassistischer, nationaldarwinistischer und antisemitischer Weltbilder zugelassen und begünstigt hat? Ich stelle diese Frage hier, auf dem Territorium der Altbundesrepublik, im Hinblick auf Westdeutschland. Zu warnen ist vor einer bequemen geographischen Verlagerung, so als sei Rechtsextremismus ein ostdeutsches Problem.

Zur "Erinnerungskultur", von der jetzt viel die Rede ist, die ja auch ihren Sinn hat, gehört folgende Frage: Wie ist es zu erklären, dass ein Gedenken an die Opfer des Gefangenenlagers in Stukenbrock über lange Jahre hin als seltsames Tun einiger "übriggebliebener" Kommunisten galt, während die offizielle westdeutsche Politik sich um die deutschen Staatsverbrechen an Gefangenen aus der Sowjetunion nicht kümmern mochte? Ohne die eigenständige, teils verhöhnte, teils bedrängte Initiative des Arbeitskreises Blumen für Stukenbrock wäre die spätere offizielle Aufmerksamkeit für die Geschichte d ieses Lagers nicht zustandegekommen.

Es sind weitere Fragen zu stellen, über den Fall Stukenbrock hinausgehend: War es nur die systempolitische Ablehnung der UdSSR oder der DDR aus der Sicht liberaler Demokratie, die den Antikommunismus für lange Zeit zur tragenden Ideologie der westdeutschen Politik machte - oder wirkte darin eine ideologische Erbschaft aus Hitlerdeutschland mit, die Idee des "Kampfes gegen den Osten", nun mit anderen Mitteln? War es nicht so, dass in den Zeiten des Kalten Krieges in Westdeutschland der Gedanke fortlebte, das "Reich des Bösen" im Osten müsse auch mit kriegerischen Mitteln zerstört werden, und dass auch daraus der westdeutsche Drang zur Verfügung über Atomwaffen herrührte? Die neuen Varianten des Antikommunismus beriefen sich auf die westdeutsche Demokratie. Die allerdings war nicht selbstgeschaffen, sondern Resultat der militärischen Niederlage Hitler-Deutschlands, an der die sowjetischen Armeen beteiligt waren ...

Solche historischen Probleme dürfen nicht verschwiegen werden, wenn Erinnerungskultur sich entwickeln soll. Es darf auch nicht vergessen werden, dass über Jahrzehnte hin eine Entschädigung für die zur Arbeit im kriegführenden Hitlerdeutschland gezwungenen "Fremdarbeiter" verweigert wurde - um von einer Entschädigung für die Arbeitseinsätze von Kriegsgefangenen hier gar nicht zu reden.

Erinnerungskultur heißt dann auch: Nicht zu vergessen, auf welch beschämende Weise sich der völlig verspätete Vorgang einer Entschädigung für Zwangsarbeit mühsam durchsetzen musste und immer noch nicht zum praktischen Ergebnis gekommen ist: Da gibt es wahrhaftig keinen Grund für die deutsche Politik, sich selbst auf die Schulter zu klopfen ...

Als 1945 die aus dem Lager Stukenbrock befreiten Überlebensden die Stätte ihrer düsteren Erinnerungen verließen, wurde ein Gelöbnis formuliert, in dem es hieß: Kommenden Generationen müsse von den Schrecken des Krieges berichtet werden; gegen jeden neuen Versuch, einen Krieg zu entfesseln, müsse aktiv angegangen werden. Eine solche Aufforderung stand für die Überlebenden überall am Ende ihrer Leidenszeit. Heute müssen wir uns fragen: Was ist daraus geworden? Wo ist denn etwas zu spüren von einer energischen und nachhaltigen internationalen Abrüstungspolitik? Die Wirklichkeit sieht so aus: Neue, technologisch „moderne" Rüstungsvorhaben und militärische Ausstattungen weltweit, in den NATO-Staaten, damit auch in der Bundesrepublik, auch in Russland und in anderen Staaten; Rüstungsexporte in Konfliktregionen; massive Einflussnahmen der Rüstungswirtschaft und der jeweiligen Militärkaste auf die Gestaltung der politischen Zukunft; ein schleichender Prozess der Gewöhnung an eine Militärstrategie, die Umdefinition der Militärpolitik, weg von der Verteidigungsfunktion, hin zur „bewaffneten Krisenlösung", was heißt: zur kriegerischen Form weltweiter Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen. Das alles nach der Devise: Friede den Palästen, Krieg den Hütten.

Solche Entwicklungen gehen fast lautlos vor sich, und wer opponiert, wird als Unruhestifter im Wachstumswettbewerb beiseitegeschoben. Kann das die „Lehre" sein, die aus dem mörderischen Zweiten Weltkrieg gezogen werden sollte? Hier ist nicht die Gelegenheit, über den Krieg der NATO gegen Jugoslawien und die deutsche Beteiligung daran näher zu sprechen. Auf einen Tatbestand aber sei aufmerksam gemacht: Der Einsatz der Bundeswehr ist von den zuständigen Politikern mit einem historischen Argument begründet worden; Milosevic sei ein „zweiter Hitler" und die serbische Politik im Kosovo bedeute ein "neues Auschwitz". Wer die Dinge so darstellt, verschleißt aus propagandistischen Motiven jede Aufklärungschance über das, was Hitlerdeutschland im Zweiten Weltkrieg an systematischer Rassenpolitik und daraus herrührendem Massenmord wirklich betrieben hat. Auch so kann man rechtsextremen Legenden über das "Dritte Reich" Auftrieb verschaffen.

Das Gedenken der Opfer deutscher Staatsverbrechen im Zweiten Weltkrieg ist nicht zu tren- nen von dem Nachdenken über die brutale und kriegerische Seite der Gegenwart. "Bewältigen" können wir ja nicht mehr die Vergangenheit; die ist vielmehr in Erinnerung zu halten und in ihren Realitäten sowie den Ursachen für mörderische Politik erkennbar zu machen. Zu bewältigen sind die Probleme der Gegenwart und der Zukunft. Was 1945 als Hoffnung formuliert wurde, ist keineswegs eingelöst: Eine Welt ohne Rassismus und ohne Krieg. Wir sind weit entfernt von diesem erhofften Zustand; wir brauchen die Wiederbelebung von Bewegungen, die dafür wirken, dass wir ihm näher kommen. Wer sich auf die politische Klasse verlässt, ist schon verlassen. Selbständiges politisches Denken ist notwendig, selbstorganisiertes politisches Handeln - gegen jeden Rassismus, gegen den Wahnsinn einer jeden Kriegspolitik.


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