Tageblatt für Enger und Spenge / Neue Westfälische ,
25.05.2005 :
"Das ruhmlose Ende in Spenge" / NW-Serie zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges / Gabriele Frommholz erinnert sich
Von Klaus Frensing
Spenge. Am 8. Mai 1945 endete offiziell in ganz Europa der Zweite Weltkrieg. In einer kleinen Serie lässt die NW daher seit Wochen Zeitzeugen zu Wort kommen, die sich noch persönlich an diese Tage und Wochen erinnern können. Heute erzählt Gabriele Frommholz aus dieser Zeit.
Der Volkssturm war das letzte miltärische Aufgebot des sogenannten "Dritten Reiches". In Spenge war Walter Frommholz sein unfreiwilliger Führer. Wer weiß, was aus Spenge geworden wäre, wenn nicht er und seine Freunde umsichtig gehandelt und Zivilcourage gezeigt und entgegen dem ausdrücklichen Befehl der damaligen NS-Kreisleitung den Spenger Volkssturm vor der Ankunft der amerikanischen Truppen aufgelöst hätten. Seine rechte Hand war damals seine Schwiegertochter Gabriele Frommholz.
Die war 1943 nach Spenge gekommen. Als technische Zeichnerin hatte sie in der Entwicklungsabteilung des Bochumer Vereins gearbeitet, die wegen der zahlreichen Bombenangriffe auf das Ruhrgebiet ins beschauliche Dreyen nach Ostwestfalen umgesiedelt worden war. Eine Unterkunft fand sie damals bei der Familie Frommholz in Spenge.
Hier avancierte sie zur Sekretärin und Vertrauten des Unternehmers, der im November 1944 den örtlichen Volkssturm übernehmen musste. Für Walter Frommholz hatte man sich entschieden, weil er 1939 als Vierundvierzigjähriger am Polenfeldzug teilgenommen hatte. Er war damals Spieß gewesen.
Von den von ihr aufgenommenen Protokollen und Befehlen der Kreisleitung ist bis auf ein Dokument nichts mehr erhalten. Walter Frommholz aber hatte 1950 für ein Buch über Spenge, das der ehemalige Rektor der Volksschule Spenge Waldemar John vorbereitete, seine Erinnerungen aufgeschrieben. Da John plötzlich verstarb, ist dieses Buch nie erschienen.
Im November 1944 hatte die Kreisleitung bei Walter Frommholz agerufen. In den Erinnerungen heißt es: "Der Kreisleiter persönlich wollte mich sprechen. Ich wunderte mich darüber, da wir noch nie in persönlichen Kontakt gekommen waren." Als Freimaurer war Frommholz seit 1933 vollkommen aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltet gewesen.
"Sie sind dazu bestimmt, den Spenger Volkssturm zu führen", sagte er zu mir. Unwillkürlich musste ich lachen. Darauf der Kreisleiter: "Das ist nicht zum Lachen, das ist eine sehr ernste Angelegenheit. Das Vaterland verlangt diesen Dienst von Ihnen." Ohne mich lange zu besinnen sagte ich: "Ich habe dem Vaterland noch nie einen Dienst verweigert und nehme an."
So wurden dann vier Kompanien zusammengestellt. Was an Männern noch in der Heimat war, wurde herangezogen. Bis zum Alter von 60 Jahren waren die Volkssturmmänner gemustert. Viele schieden bald aus, da sie auch für den leichtesten Dienst nicht mehr zu gebrauchen waren. Außer einigen alten Parteigenossen waren kaum Männer dabei, die gern zum Dienst kamen.
Täglich erhielt ich zunächst von der Kreisleitung, dann von einer militärischen Dienststelle in Herford Dienstanweisungen und Verordnungen. Waffen und Ausrüstung gab es überhaupt nicht. Vor jedem Dienst sollte jeweils eine halbe Stunde weltanschaulicher Unterricht erteilt werden. In Spenge sind wir stillschweigend darüber hinweg gegangen und haben die Volkssturmmänner so wenig wie möglich beschäftigt.
Zu gegebener Zeit sollten wir auch Waffen und Munition erhalten. Uniformen würden in Herford bereit gestellt, so hieß es. Außer 100 Panzerfäusten und einigen alten Uiformen der Sanitätskolonne haben wir aber nie etwas erhalten.
Der Spenger Volkssturm bestand aus ca. 600 Mann, verfügte über drei alte Gewehre und einige Pistolen. Entlang der Warmenau, von Klein-Aschen bis Bardüttingdorf und von da bis zur Ziegelei Kleimann und nach Lenzinghausen zur Chaussee nach Bielefeld wurden zwölf Wachen aufgestellt. Das Hauptquartier war in meinem Betrieb in der Biermannstraße. An einigen Stellen wurden aus Baumstämmen Panzersperren errichtet. Doppelposten mussten hier aufgestellt werden.
Man stelle sich vor, im Anmarsch war eine Armee, ausgerüstet mit allen modernen Waffen, mit tausenden von Panzern, einer gewaltigen Luftwaffe, gut genährt und gekleidet. Dagegen waren wir Verteidiger gezwungen, in unserern Zivilanzügen mit schlechtem Schuhwerk ohne Waffen anzutreten.
Oft kam es vor, dass Volkssturmmänner nicht zum Dienst kamen, weil sie keine heilen Schuhe mehr hatten, krank waren oder hungern mussten. Verpflegung bekam der Volkssturm nicht. Die Sache war einfach hoffnungslos. Da auf Drückebergerei strenge Strafen angedroht waren, habe ich manchem gut zugeredet und gesagt, dass es so schlimm nicht würde.
Wie oft wurde ich von einem Posten gefragt: "Was soll ich tun, wenn die Amerikaner kommen?" Ich konnte ihm ja nicht sagen, dass er weglaufen sollte. In jeder Kompanie waren immerhin einige fanatische Leute, die verdächtige Äußerungen sofort der Parteileitung überbrachten.
Dadurch geschah in den letzten Wochen noch manches Unheil. In Spenge allerdings ging alles glatt. Mit einigen Freunden waren wir übereingekommen, den Volkssturm beim Einrücken der Amerikaner rechtzeitig aufzulösen, um unnötige Opfer an Gut und Blut zu vermeiden.
In den Märztagen ging das Drama seinem Höhepunkt entgegen. Es kam der Befehl, besonders auf recht kräftige Erwiderung des Grußes "Heil Hitler!" zu achten. Da es die Leute nicht sehr anstrengte, haben wir das mehrmals geübt und der Kreisleiter war zufrieden.
Eines Tages kam ein Befehl, dass die Posten untersucht werden sollten, ob sie weiße Tücher in der Tasche hätten. "Solche Leute sind sofort standrechtlich zu erschießen." Ich habe diesen Befehl gar nicht bekanntgemacht.
Immer weiter rückten die Alliierten in Deutschland vor. Unsere Soldaten kamen aufgelöst zurück. Sie warfen die Waffen fort. Die Verbände waren zersprengt.
Der entscheidende Tag, der 31. März 1945, kam heran. Auf der Strecke Halle - Borgholzhausen schoss die ganze Nacht Artellerie. Infanteriefeuer kam aus Richtung Jöllenbeck. Die Panzer brummten die ganze Nacht hindurch. Sie standen in Werther und Melle und marschierten ostwärts auf Enger und Bünde zu.
Die Zeit war gekommen, den Volkssturm aufzulösen. Mit einigen Kameraden ging ich zum Ortsgruppenleiter, dem ja der Volkssturm unterstellt war, und forderte ihn auf, dem Einziehen der Wachen und der Auflösung des Volkssturmes zuzustimmen.
Zunächst machte er Einwände und wurde von einigen Parteifreunden dabei unterstützt. Bald aber gab er seine Einwilligung. In einigen kurzen Sätzen wurden die in Spenge versammelten Volkssturmmänner aufgeklärt. Sie konnten nach Hause gehen.
Trotz des Ernstes der Stunde war die Freude groß. Die Wachen wurden angerufen, dass der Volkssturm aufgelöst sei. Die Panzerfäuste flogen in die Warmenau und in einigen Stunden waren die Panzersperren niedergerissen.
Bald meldete sich die Kreisleitung, die von einem fanatischen Parteimitglied verständigt worden war. Es kam der Befehl, den Volkssturm sofort wieder zusammenzurufen. Ich wurde mit meinem Kopf dafür verantwortlich gemacht, dass der Volkssturm kämpfte."
Dieses Gespräch hat damals Gabriele Frommholz entgegengenommen. Sie hatte wohl noch nie in ihrem Leben soviel Angst ausgestanden, wie in dieser Stunde.
Walter Frommholz selbst machte sich auf den Weg zur Verbindungsstelle in Westerenger, um zu hören, was in Enger unternommen wurde.
Dort waren die Verhandlungen des Volkssturmführers mit dem Ortsgruppenleiter schwieriger als in Spenge. Er wollte durchaus nicht nachgeben. In der Nacht aber war auch er bereit. Gegen fünf Uhr früh kam dann noch ein Anruf von der Kreisleitung. Man hörte im Apparat Schreien und Grölen und das Lallen Betrunkener. Der Volkssturm erhielt den Befehl, geschlossen nach Minden zu marschieren. Treffpunkt Infanteriekaserne! Ich musste den Befehl wiederholen und mir wurde befohlen, den Volkssturm nach Minden zu führen. Dann hieß es: "Die Kreisleitung rückt jetzt nach Minden ab. Auf Wiedersehen in Minden!"
Das waren die letzten Worte, die meine Kommandostelle an mich richtete. Erleichtert setzte ich mich auf einen Stuhl. Ein leichter Regen rieselte draußen herab. Sollte ich mit den Leuten, die keine Ausrüstung, keine Waffen und keine Verpflegung hatten, einfach abmarschieren? Nein! Der Volkssturm wurde nicht alarmiert, wir blieben zu Hause.
Erst nach einigen Tagen kam ein Kommando der Amerikaner von Enger nach Spenge herüber, und die Übergabe wurde auf dem Amt vollzogen. Das war das ruhmlose Ende des Zweiten Weltkrieges im Volkssturm Spenge."
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