Westfälisches Volksblatt / Westfalen-Blatt ,
24.05.2005 :
1945 - Paderborn fängt neu an / WV-Serie: Folge 2 / Notquartier in fremder Wohnung ohne Fenster / Margret Engel lebte fünf Jahre lang im Provisorium
Paderborn (WV). "April 1945: Ein ratloses, perspektivloses Leben für Paderborner Ausgebombte." So empfand es die damals 19-jährige Margret Engel, deren Elternhaus an der Ecke Borchener Straße/Mälzerstraße durch einen Fliegerangriff zerstört worden war. Der Vater und der ältere Bruder standen noch an der Front, die Restfamilie bestehend aus Mutter, Oma, Bruder Kurt und Margret war auf einem Bauernhof in Neuhaus untergekommen.
"Immer wieder suchte ich Paderborn auf, unterwegs Kontrollen durch amerikanische Posten. Am 10. April besuchte ich die befreundete Familie Ruhmann in der einigermaßen verschont gebliebenen Göbenstraße (heute Friedrich-Ebert-Straße). Und ich wurde beschworen, mit der Familie in eine leerstehende Wohnung im Haus Göbenstraße 18 einzuziehen. Für mich ein abwegiger Gedanke!
Vater Ruhmann versprach Hilfe. In der Wohnung, in der kein Fenster heil und keine Tür zu schließen war, standen ein Kohlenküchenherd und eine Liege. In der ersten Etage lebte eine alte Dame, die eifrig zuredete, doch zu kommen.
Ohne "obrigkeitliches" Einverständnis wollte ich auf keinen Fall auf den Vorschlag eingehen. Also auf zur Kommandantur in der Bahnhofstraße, dann zur deutschen Verwaltung im zerstörten Rathaus. Ja, hieß es da, wir sollten einziehen und uns mit dem Eigentümer, einer Familie Blanke, in Verbindung setzen. Als ich mit meiner Neuigkeit zu unserem Gastbauernhof zurückkehrte, traf ich auf helles Entsetzen unserer Mutter: Niemals! Meine Tränen nützten nichts. Jedoch gegen Abend hatte sie nach Beratung mit anderen ihre Meinung geändert.
Während ich am anderen Morgen in Neuhaus um Brot anstand, spannte der Bauer einen Wagen an, lud auf ihn die anderen Familienmitglieder und dazu unsere ausgelagerten Habseligkeiten (ein Bett und einen Koffer), die von Bruder Kurt aus dem brennenden Elternhaus geretteten Schätze (eine Nähmaschine und ein Radio), sowie Kartoffeln aus einer Wehrmachtsdimme. Am Mittag traf auch ich in der Göbenstraße ein.
Zum ersten Mal nach dem Angriff konnten wir uns selbst wieder ein Essen zubereiten. Ein Nachbar bat, mit uns essen zu dürfen, er werde ein Glas Rote Bete zusteuern. Eine glückliche Mahlgemeinschaft bei Kartoffelscheiben in Mehlsoße und Roten Beten!
Nachbar Ruhmann vernagelte alle Fenster mit Pappe, teils mit lichtdurchlässigem Material. Er gab uns auch Ratschläge, wie wir nachts die Türen mit Bindfäden absichern konnten. Das Wasser mussten wir mit Eimern beim Milchhändler Bachmann in der Balhornstraße holen. Bruder Kurt machte sich auf nach Driburg zur Familie Blanke und kam mit deren Einverständnis zu unserem Einzug zurück. Da wir, vier Personen, nur zwei Liegemöglichkeiten hatten, wurde ich nachts zur Familie Ruhmann ausquartiert. Mehr als ein Jahr haben deren Töchter ihr Zimmer mit mir geteilt.
Sehr bald kamen Möbelangebote. Wir liehen uns Möbel von Familie Kiel aus der oberen Sighardstraße. Vater und Mutter Kiel hatten bei einem Angriff den Tod gefunden, ihre drei Kinder befanden sich in der Obhut einer Tante, die uns die Möbel zur Verfügung stellte. Irgendwann gesellte sich ein Spind aus einer Kaserne dazu.
Die Besitzer "unserer" Wohnung kehrten im Frühjahr 1946 zurück. Wir durften ein Zimmer im Parterre behalten und uns im beschädigten Dachgeschoss ein Zimmer und eine Küche einrichten. Dort haben wir bis 1950 gelebt."
Notiert von Andrea Pistorius
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