Mindener Tageblatt ,
20.05.2005 :
Durch Filmaufnahmen aus KZs schockiert / Filmhistoriker Heiner Roß zeigt Wochenschaubilder vom 19. Mai 1945: Wartende Menschenmasse vor "Scala"
Von Jürgen Langenkämper
Vor allem viele ältere Mindener wollten am Mittwochabend die hier wohl noch nie gezeigten Aufnahmen sehen. Mehrfach schwenkte der Kameramann der Wochenschau-Produktionsfirma Pathé über die Schlange vor dem Kinoeingang. Und tatsächlich erkannte Hans Bradtmüller, inzwischen 77 Jahre alt, seinen Vater in der Menschenmenge wieder. "Wahrscheinlich muss ich auch irgendwo in der Nähe gestanden haben, denn wir sind an dem Tag gemeinsam dorthin gegangen", erinnerte sich der Zeitzeuge des Kriegsendes in Minden (MT vom 29. April).
Anlass für die Aufnahmen, die Roß mit seinem Team der Kinematek Hamburg durch hartnäckige Recherchen in englischen Archiven entdeckte, war die Vorführung britischer Wochenschauaufnahmen aus den Konzentrationslagern Buchenwald und Bergen-Belsen. Für die Bevölkerung war dies nach Wochen die erste Gelegenheit zum Kino-Besuch - und für viele das erste Mal, dass sie die schrecklichen Bilder aus den Konzentrationslagern sahen.
Der Schrecken, der sie beim Anblick der ausgemergelten Nazi-Opfer und der Leichenberge in den Lagern befallen hatte, stand allen noch ins Gesicht geschrieben, als sie die Scala verließen. Ein Interview führte ein uniformierter Brite schließlich mit dem von der Militärverwaltung ernannten Bürgermeister Dr. Martin Hutze, den selbstverständlich die Älteren unter den Zuschauern sofort wiedererkannten. "Für mich ist das mit das Beeindruckendste", gestand der Filmhistoriker. Denn auf die Frage des Interviewers nach der Verantwortung der Deutschen für die schockierenden Gräuel, in englischen Wochenschauen der Zeit wiederholt als "Atrocities" eine fast schon stehende Redewendung, wies Hutze auf die die eigene Bevölkerung einschüchternde Macht der Nazis hin.
Gezeigt worden ist dieses auf Englisch geführte Interview später jedoch offensichtlich nie. Der Stand der damaligen Aufnahmetechnik und weitere Qualitätsverluste im Laufe der Jahrzehnte, derentwegen viele Film- und Tondokumente der Zeit bereits unwiederbringlich verloren sind, erschwerten die Vorführung.
Bevor sie für das deutsche Publikum gezeigt wurden, waren die Filmaufnahmen aus den KZs einen Monat zuvor bereits in England vorgeführt worden. Welche der unterschiedlichen Wochenschauen in Minden gezeigt wurde, kann Roß nur vermuten. "Pathé hat wahrscheinlich dort gedreht, wo eine Pathé-Wochenschau gezeigt wurde." Diese ist aber, soweit bekannt nicht mehr erhalten, wohl aber die Aufnahmen des Konkurrenten "British Movie-Tones", die im Imperial War Museum die Zeit überdauert hat. Roß zeigte schließlich diese Version, die ebenfalls auf Aufnahmen basiert, die die britischen Militärbehörden bei der Befreiung der Lager anfertigen ließen und freigaben.
Roß erläuterte, dass das Konzept der "Reeducation" der westlichen Alliierten nicht "Umerziehung" bedeutete, wie dies Kritiker auf deutscher Seite behaupteten, sondern "Rück-Führung" auf die eigene Kultur, die von der Nazi-Herrschaft überschattet war. Für die "Re-education" gedrehte Filme waren nicht nur ausschließlich für Deutschland bestimmt, sondern auf für andere Länder, die seit der Landung in der Normandie im Juni 1944 von Nazis und Wehrmacht befreit worden waren.
Auf englischer Seite, so Roß‘ Ausführungen, hatte besonders der Verleger Victor Gollancz sich trotz - oder gerade wegen - seines antifaschistischen Engagements frühzeitig für eine Verständigung mit der deutschen Bevölkerung eingesetzt und wiederholt versucht, das System der Konzentrationslager darzustellen, um einer allgemeinen Verurteilung der Deutschen entgegenzuwirken. Insgesamt zeigten sich die Briten, obgleich in der Frage zwiegespalten, "sehr umsichtig im Umgang mit Verbrechen des Deutschen Reiches", so Roß.
Im Laufe der unmittelbaren Nachkriegsmonate gaben sie zum Bedauern des Cineasten aber auch Pläne für einen längeren Film über KZs und Judenvernichtung auf, obwohl daran anerkannte Spezialisten wie Alfred Hitchcock mitwirkten. Die Amerikaner dagegen stellten ihren Dokumentarfilm "Todesmühlen" fertig.
Entgegen der Einschätzung des Publikums wurden bis 1995 nur sehr wenige Filmszenen zu KZs öffentlich gezeigt, nämlich nicht einmal zwei Stunden. Erst seither sind weitere Aufnahmen aus Archiven zugänglich.
mt@mt-online.de
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