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Deister- und Weserzeitung , 14.05.2005 :

Den Blick auch auf das Leiden der anderen gelenkt / Fast wäre Hameln zurück in die Steinzeit gebombt worden / Die Ursachen des Leids müssen wir "unter uns" suchen

Hameln. War uns bewusst, wie verheerend die Kriegsereignisse Hameln getroffen haben? Die Zahlen der Opfer sind erschreckend hoch. Über 195 zivile Opfer, zahlreiche deutsche Soldaten, 390 Insassen des Zuchthauses und 360 ausländische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter mussten sterben. Hatten wir eine Vorstellung davon, wie mühselig und langwierig der Neuanfang war? Besatzung, Trümmer, Vertriebene und die blanke Not waren nicht dazu angetan, hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen. In den ersten Jahren wussten nur wenige, was aus Deutschland werden sollte. Selbst bei vielen noch lebenden Zeugen des Endes ist die Erinnerung an Hunger und Not verblasst. Die Erfahrung, besiegt worden zu sein, ist heute der Gewissheitgewichen, befreit worden zu sein.

Aus der Fülle des Materials, das uns während der Serie erreicht hat, will ich einige Beispiele hervorheben. Eine geradezu fürchterliche Liste von Zerstörungen, welche die Partei im Rahmen von Hitlers Befehl, dem Feind verbrannte Erde zu hinterlassen, für Hameln geplant hatte. Hameln wäre um ein Haar zurück in die Steinzeit gebombt worden. Das Tagebuch "Kriegsende in Hameln" des Gefreiten Walter Brockmann. Es gibt einen lebhaften Eindruck, wie sich kurz vor dem Ende die Disziplin der Soldaten auflöste. Die Briefe einer Frau. Zwei Jahre lang schreibt sie an ihren längst gefallenen Mann, immer in der Zuversicht, dass er noch lebt.

Von besonderem historischen Wert sind die Interviews mit Mitgliedern der verfolgten Arbeiterbewegung. Besonders aus diesen Kreisen war Widerstand gegen das Regime geübt worden ist. Hier hatten demokratische Strukturen überdauert, die dann für den Neuaufbau wertvoll werden sollten.

Die Serie spiegelt die Gleichzeitigkeit widersprüchlichster Stimmungen, Ängste und Hoffnungen. Die Erfahrung des Zuchthaushäftlings und des Zwangsarbeiters, für die der Einmarsch der Amerikaner die Befreiung bedeutet, steht neben der Erfahrung des Hamelner Bürgers, der Bombardierung, Plünderung durch die Sieger, vielleicht noch die Vertreibung aus der Wohnung und langjährigen Hunger erlebt.

Die Serie wollte dazu einladen, die eigenen Erfahrungen zu berichten, ohne jedoch die gegensätzlichen Erfahrungen anderer zu ignorieren. Sie wollte den Blick auf das Leiden der anderen lenken. Sie wollte damit auch auf die Ursachen für all das Leid verweisen. Bundespräsident von Weizsäcker hat in seiner Rede am 8. Mai 1985 gesagt: "Niemand wird vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Kriege führte. Wir dürfen den 8. Mai nicht vom 30. Januar 1933 trennen."

Die Erinnerungen halten die Risse zwischen Opfern und Tätern wach. Es gibt einen letzten Unterschied zwischen Opfern der NS-Herrschaft und deutschen Kriegstoten. Es geht nicht darum, die Leiden von Deutschen zu schmälern. Sie sind Teil der großen Katastrophe. Sie zu benennen, darf nicht den Neonazis überlassen bleiben.

Die Ursachen und die Urheber des Leids, soweit es in Hameln verübt wurde, müssen wir "unter uns" suchen. Wer gab innerhalb der Hamelner Partei und der Stadtverwaltung den irrsinnigen Befehl, die Stadt zu verteidigen? Wer trägt damit die Verantwortung für den Beschuss der Stadt? Wir kennen bisher nicht die Namen. Wichtige Fragen zur Hamelner Geschichte dieser Zeit sind noch offen.

14./15.05.2005
redaktion@dewezet.de

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