Westfalen-Blatt / Bad Oeynhausener Zeitung ,
08.04.2020 :
Butter im Brunnen versteckt
Erika Elstermeier (91) erinnert sich an das Kriegsende auf der Lohe
Von Lydia Böhne
Bad Oeynhausen-Lohe (WB). "Was ich als Kind erlebt habe, werde ich nicht vergessen", sagt Erika Elstermeier. Auch 75 Jahre nach dem Kriegsende in Bad Oeynhausen am 3. April 1945 kann sich die 91-Jährige noch genau daran erinnern, wie die amerikanischen Truppen auf der Lohe einmarschiert sind. Die Seniorin hat das Kriegsende als 15-jährige auf dem Hof ihrer Eltern an der Loher Straße erlebt.
"Das Osterfest haben wir noch nach üblichem Brauch gefeiert, als am Ostermontag im Westen der Donner schwerer Geschütze von Herford her zu hören war", berichtet Erika Elstermeier. Ihr Vater August Kracht war sich sicher: Es ist die sich nähernde Front. "Er sagte, dass wir keine Gnade werden erwarten können", ergänzt die Loherin.
Vom Hof aus konnte die Familie die Flakgeschütze auf der Steinegge sehen. Als die amerikanischen Panzer aus der Deckung, die ihnen das Osterbachtal bot, herausfuhren, eröffnete die Flak dort das Feuer. Die amerikanischen Truppen schafften von der heutigen Martin-Luther-Straße einen Zugang zum Acker von August Kracht und stellten Panzer und Geschütze auf, um die Flakstellung auf der Steinegge zu vernichten. Diese Zuwegung gibt es heute noch.
Während des Gefechts hatte nicht nur die Familie im Keller Schutz gesucht. "Wir trafen dort auf amerikanische Infanteriesoldaten. Ich habe in dem Moment das erste Mal dunkelhäutige Menschen gesehen", erinnert sich die 91-Jährige. Man habe nicht geredet, sich höchstens über Handzeichen verständigt.
Obwohl der Hof mitten in der Schusslinie liegt, übersteht das 1780 erbaute Gehöft das Gefecht mit geringen Schäden. "Die Fensterscheiben waren zerbrochen und wurden wieder vernagelt, die Brotschale auf dem Tisch war durch einen Granatsplitter zerbrochen", erläutert die Seniorin.
In den Kirschbaum vor dem Haus habe ein amerikanischer Soldat ein weißes Bettlaken als Zeichen der Kapitulation gehängt. Während des Einmarsches habe man Wurst, Speckseiten und Schinken noch schnell bei Verwandten in Sicherheit bringen können. Eier wurden vergraben, die Butter in einem Eimer in den Brunnen gehängt.
Als die Familie abends ihren Hof verlassen musste, um ihn amerikanischen Truppen als Quartier zur Verfügung zu stellen, kamen Erika Elstermeier, ihre Eltern und ihre ältere Schwester bei Nachbarn unter. Der älteste Bruder war 1944 bereits im Krieg gefallen.
"Unser Hof schien als Quartier aber wohl nicht so geeignet", sagt die 91-Jährige. Denn schon am nächsten Tag konnte die Familie ihr Haus wieder beziehen. Die Soldaten hatten mit den vorgefundenen Lebensmitteln gefrühstückt, den Sekt, den sie im Keller gefunden hatten, ausgetrunken, das Hitler-Bild, das in jedem Haushalt an der Wand hängen musste, vermutlich als Souvenir mitgenommen und das Vieh gefüttert und die Kühe gemolken. "Viele US-Soldaten kamen ja selbst aus Farmgebieten", ergänzt der Sohn der 91-Jährigen, Friedrich Elstermeier (66). In den kommenden Monaten nahm die Familie nicht nur zahlreiche Loher auf, deren Obdach beschlagnahmt wurde, auch ausgebombte Menschen aus dem Ruhrgebiet sowie Geflüchtete aus Bad Oeynhausen fanden dort Zuflucht. Zwischenzeitlich lebten etwa 30 Personen auf dem Hof. "Es herrschte ein strenges Regiment. Wir Kinder haben im Stall auf dem Boden geschlafen. Morgens musste erst um 4 Uhr das Vieh versorgt werden, erst dann gab es Frühstück für uns - eine Scheibe Brot, später Eintopf", berichtet Erika Elstermeier.
Die Loherin erinnert sich noch, wie zwei frisch geborene Zwillinge in einer Suppenterrine gebadet wurden. Erika Elstermeier erlebte in ihrer Jugend prägende Jahre, die ihr späteres Leben bestimmt haben. "Den Solidaritätsgedanken habe ich an meinen Sohn weitergegeben", sagt die Seniorin.
Bildunterschrift: Das Kriegsende am 3. April 1945 hat Erika Elstermeier als 15-Jährige auf dem elterlichen Hof erlebt. Von den Ereignissen hat sie ihrem Sohn Friedrich Elstermeier berichtet.
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Westfalen-Blatt / Bad Oeynhausener Zeitung, 30.03.2020:
Bei der Mittagsstulle fallen die Bomben
Vor 75 Jahren ist das Eisenwerk Weserhütte bombardiert worden
Von Louis Ruthe
Bad Oeynhausen (WB). Karfreitag, 30. März 1945: ein Tag, der für etwa 200 Arbeiter des damaligen Eisenwerkes Weserhütte in Bad Oeynhausen mit dem Tod endete. Tausende Arbeiter konnten noch rechtzeitig fliehen, bevor die Alliierten sechs Bombenangriffe flogen, um das für die Rüstungsindustrie der Deutschen Wehrmacht umfunktionierte Werk zu zerstören. Gerhardt Horstmann und Wilhelm Riesmeier, beide damals 14 Jahre alt, können sich noch genau an die Ereignisse des Tages erinnern.
"Mit 13 sind wir eingezogen worden und jeden Morgen hatten wir Angst", berichtet Gerhardt Horstmann. Am 1. April 1944 fing er als Werkzeugmacher in der Weserhütte an, Punkt 7.30 Uhr. "In Reih und Glied mussten wir unsere Finger und Schuhe vorzeigen. Wenn was nicht stimmte, haben wir einen auf die Schnauze bekommen", sagt Gerhardt Horstmann. Das erste halbe Jahr habe er nur am Schraubstock gestanden und Passstücke gefeilt. "Dass ich Passstücke für die Pak oder die Flak gefeilt habe, ist mir erst Jahre später bewusst geworden", berichtet er. Für Wilhelm Riesmeier ist der 1. Juni 1944 der erste Arbeitstag gewesen. "Wir haben damals etwa 60 Pfennig die Stunde bekommen", berichtet der damals in Volmerdingsen wohnende Zeitzeuge. Heute lebt er in Lübbecke. Von 7.30 Uhr bis 17 Uhr sei in der Weserhütte geschuftet worden. "Eine Mittagspause stand uns immer zu", sagt Wilhelm Riesmeier. Er sei oftmals mit dem Rad zur Arbeit gefahren. Gerhardt Horstmann nutzte den Bus, um aus Rothenuffeln zur Arbeit zu fahren.
"Ich packte meine Mittagsstulle ein, riss mein Henkelmann vom Tisch und rannte zur Treppe."
Zeitzeuge Gerhardt Horstmann
Tag der Bombardierung
"Es war erstmalig, dass wir auch an Karfreitag arbeiten mussten", erinnert sich Wilhelm Riesmeier. Es sei eine sonnige Woche gewesen. Also stieg Wilhelm Riesmeier wieder auf sein Rad und fuhr zur Weserhütte runter. Auch Gerhardt Horstmann überlegte sich, an dem Tag das Rad anstatt den Bus zu nehmen. "Ich musste ein bisschen eher los, habe es aber pünktlich zum Antreten geschafft", sagt er. Nach einem "ganz normalen Morgen" hatten die zu dem Zeitpunkt 14-Jährigen auf die Minute genau um 12.30 Uhr ihre Mittagspause begonnen, mit einigen hundert anderen Arbeitern. "Der Aufenthaltsraum war auf einer Empore und über eine Treppe zu erreichen", sagt Wilhelm Riesmeier.
Immer mal wieder sei es zu der Zeit zum Bombenalarm gekommen. So auch um kurz vor 13 Uhr am 30. März 1945. "Plötzlich ertönte über die Werkssirenen ein Vollalarm", berichtet Gerhardt Horstmann und ergänzt: "Ich packte meine Mittagsstulle ein, riss meinen Henkelmann vom Tisch und rannte zur Treppe." Doch kaum an der Treppe angekommen schlugen die ersten Bomben in den Westhallen des Werkes ein. "Alles hat gewackelt. Einige schmissen sich hin und uns erfasste eine riesige Druckwelle voller Schutt und Asche", berichtet Gerhardt Horstmann. Wilhelm Riesmeier ergänzt: "Plötzlich war alles hell und wir rannten so schnell wir konnten."
Die Flucht
Durch ein großes Tor im Ostflügel des Werkes verließen die beiden Zeitzeugen damals das Werk. Gerhardt Horstmann lief zum Spänebunker an der Weser, wo sein Fahrrad stand. "20 bis 30 Personen haben da versucht Schutz zu finden", sagt Gerhardt Horstmann. Wilhelm Riesmeier rannte bis nach Volmerdingsen, ohne einen Blick zurück zu wagen. "Ich habe mich am Wiehengebirge orientiert", sagt Wilhelm Riesmeier. Sein Fahrrad habe er nie wiedergefunden. "Als ich Zuhause ankam, habe ich erst mal von meiner Mutter einen hinter die Löffel bekommen, weil meine Klotten voller Staub waren", berichtet Gerhardt Horstmann. "Ich habe dann irgendwie aus mir heraus gestottert, dass die Weserhütte bombardiert wurde und Muttern nahm mich in den Arm", sagt er. Noch am selben Abend sei er auf einen Aussichtspunkt im Wiehengebirge geklettert. "Es stand alles in Flammen", erinnert sich Gerhardt Horstmann.
Als die Alliierten kamen
Wenige Tage später hätten die ersten Panzer der Alliierten es über den Berg geschafft. "Die ersten Tage sind wir alle im Haus geblieben", erinnert sich Gerhardt Horstmann. Erst Ende Mai habe er sich wieder aus dem Haus getraut.
"Wir beide hatten ganz großes Glück. Wenn die Bomben nur 50 Meter weiter östlich eingeschlagen wären, wären wir auch tot gewesen", sagt Wilhelm Riesmeier. 150 Arbeiter seien bei den insgesamt sechs Angriffen ums Leben gekommen, dutzende weitere erlagen später ihren Verletzungen. Mehr als 3.500 Arbeiter seien in dem Werk beschäftigt gewesen. "Viele kamen mit mir über den Berg", sagt Gerhardt Horstmann.
Bildunterschrift: Heute erinnert eine Tafel am 1998 eröffneten Einkaufszentrum Werre-Park an das Eisenwerk Weserhütte, das ehemals dort stand. Wilhelm Riesmeier (89, links) und Gerhardt Horstmann sind Zeitzeugen des Bombenangriffs auf die Weserhütte am 30. März 1945. Das Foto entstand vor der Zuspitzung der Corona-Krise.
Bildunterschrift: Mit solch einem Arbeitsausweis mussten die jungen Arbeiter morgens um 7.30 Uhr antreten.
Bildunterschrift: Eine Luftansicht aus dem Kriegsjahr 1939: Tausende Arbeiter haben im Eisenwerk Weserhütte für die Kriegsmaschinerie gearbeitet.
Bildunterschrift: Die Industrieanlage nach dem Bombenangriff am 30. März 1945: Ein einzelner Panzer liegt vor den völlig zerstörten Werkshallen.
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www.badoeynhausen.de/kultur-sport-freizeit/kultur/stadtarchiv
www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/a-b/316-bad-oeynhausen-nordrhein-westfalen
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