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Lippische Landes-Zeitung , 06.04.2020 :

"Kämpfen bis zum letzten Mann"

Vor 75 Jahren erobern die Amerikaner Lemgo / Schwere Gefechte toben in der Laubke, viele Soldaten sind fast noch Kinder / Beinahe 100 Menschen sterben an diesem Tag / Auch Zeitzeuge Horst Wrenger erinnert sich

Florian Lueke

Lemgo. Lemgo gilt heute als "unzerstörte Stadt". Tatsächlich blieb Lemgo bis Anfang April 1945 von Bombenangriffen und Kampfhandlungen verschont. Dann jedoch tobten in der Laubke schwere Kämpfe. Schon lange hatten sich die Bürger an die alliierten Bomber gewöhnt, die hoch über Lemgo hinweg ihre Kreise zogen. Schon häufig hatten viele die Nachricht erhalten, dass ein Sohn, Bruder, Vater oder Nachbar im Krieg gefallen war. Bezogen auf das heutige Gemeindegebiet fielen knapp 1.000 Lemgoer als Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Von Luftangriffen war die Stadt allerdings bis Ende März 1945 verschont geblieben.

In der Nacht vom 3. auf den 4. April jedoch erreicht der Krieg auch die alte Hansestadt. Die Amerikaner stehen bereits in Lage und der kommandierende Wehrmachtsgeneral verlegt seine Zentrale eilig nach Lüdenhausen - nicht ohne vorher noch den Befehl an den Stadtkommandanten Heckmann zu geben, die Garnisonsstadt Lemgo "bis zum letzten Mann" zu verteidigen.

Heckmann selbst hat wenig Kampferfahrung, ist jedoch überzeugter Nationalsozialist und rekrutiert knapp 100 Soldaten. Kampffähig ist die Truppe kaum. Sie stellt sich zusammen aus Technikern der Lemgoer Garnison, versprengten und geschlagenen Wehrmachtseinheiten, SS-Männern, halbinvaliden Soldaten des Lazaretts und einigen älteren Mitgliedern des Volkssturms. Die NS-Leitung hatte in den Tagen zuvor bereits improvisierte Panzersperren aus Baumstämmen und Sträuchern errichten lassen.

Hitler-Jugend und Jungvolk, so erinnert sich Zeitzeuge Horst Wrenger (88), hätten zudem zwischen Laubke und Hörstmar Löcher für eine Verteidigungslinie 200 Meter westlich der heutigen Umgehungsstraße graben müssen. Das Vorhaben zur Verteidigung der Stadt gleicht dennoch einem Himmelsfahrtkommando. So besitzen die Verteidiger bis auf einige Handgranaten sowie Gewehren mit wenigen Schuss Munition keine schweren Waffen - während die Amerikaner alleine in Hörstmar über 40 Panzer und umfangreiche Artillerie verfügen.

Das einzige funktionstüchtige Geschütz positioniert Heckmann neben dem Wohnhaus des Kaufmanns Lüpke in der Laubke. Ob dieser Ausgangssituation verwundert es wenig, dass Lüpke am frühen Morgen des 4. April mit dem endlich zur Besinnung gekommenen NS-Bürgermeister Wilhelm Gräfer durch Verhandlungen mit den Amerikanern das Schlimmste zu unterbinden versucht. Für Heckmann ist dies jedoch Hochverrat und er lässt beide verhaften. Gräfer wird hingerichtet.

Gegen 9.30 Uhr beginnen die Kämpfe. Sie dürften kurz und heftig gewesen sein, denn schon knapp eine Dreiviertelstunde später haben die Amerikaner die deutsche Verteidigungslinie überwunden. Von den 70 hier eingesetzten Soldaten und SS-Männern sterben 29 direkt vor Ort, weitere 19 werden auf dem Rückzug oder bei verzweifelten Einzelaktionen getötet. Hinzu kommen nach einer späteren Statistik der Stadt 21 in Folge der Kämpfe gestorbene Zivilisten sowie je zehn alliierte und deutsche Soldaten, die an diesem Tag bei Kämpfen in den heutigen Ortsteilen ums Leben kommen. Vergessen werden dürfen nicht die zahlreichen Verwundeten, von denen mehrere in den folgenden Tagen noch sterben werden. Viele der Soldaten waren noch Teenager.

Die jüngsten Opfer sind noch halbe Kinder, so der erst 16-jährige Soldat Franz Hoffmann sowie weitere 17- oder 18-Jährige, die nur noch tot ins Lazarett eingeliefert wurden. Horst Wrenger erinnert sich noch heute daran, dass sein Großvater mitten im Gefecht nur mit Mühe seinen älteren Bruder davon abhalten kann, mit lediglich zwei Handgranaten bewaffnet, auf die amerikanischen Panzer zu stürmen. Gerade die Schüler waren, so Wrenger, stark von der NS-Propaganda beeinflusst, wonach die "amerikanischen Juden und Neger" alle Deutschen umbringen würden.

Innerhalb Lemgos selbst kommen die Amerikaner schnell voran. Die Panzersperren werden überrannt - behindern danach allerdings wochenlang den Zivilverkehr. Schon um 11 Uhr verlassen die ersten Truppen die Stadt wieder nach Westen. In der Fläche besetzt wird sie erst, als weitere amerikanische und kanadische Truppen von Detmold und Schötmar her Lemgo erreichen. Während die Bürger nördlich der Bega weiterhin auf eine unzerstörte Stadt blicken, bietet sich den Bürgern im Lemgoer Süd-Westen ein Blick auf die Grauen des Krieges. Hier gibt es viele niedergebrannte, zerstörte und beschädigte Häuser, aber auch das, was die Granaten von den Soldaten übrig ließen.

Einer der Panzer, so erinnert sich der langjährige Kantor bei St. Nicolai Jobst-Hermann Koch (85), sei am Ostertor liegen geblieben und habe danach wochenlang Lemgoern Kindern als Spielplatz gedient. Mit der Zeit aber verschwanden die Zerstörungen und Kämpfe aus dem Gedächtnis der Lemgoer Bürger. Sie wurden ersetzt vom Mythos um den Bürgermeister Gräfer, der vermeintlich eine unzerstörte Stadt an die Alliierten übergeben habe und hierfür hingerichtet worden sei.

Text unten rechts.

Bildunterschrift: Am 4. April 1945 rücken die Alliierten mit Panzern bewaffnet in Lemgo ein (Bild links). Die Bürger winken mit weißen Tüchern aus den Fenstern als Zeichen der Aufgabe (rechts oben). Amerikanische Soldaten hängen Schilder auf, die "Krauts" seien vertrieben.

Bildunterschrift: Zeitzeuge Horst Wrenger steht an der Stelle, an der ein Bomber der Amerikaner am 11. Januar 1944 abstürzte.

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Am 4. April 1945 nahmen US-Kampfverbände die Alte Hansestadt Lemgo, von Hörstmar kommend - nach kurzen (teilweise verlustreichen) Gefechten ein - damit endete für Lemgo die Herrschaft des NS-Regimes.

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www.stadtarchiv-lemgo.de

www.stadtarchiv-lemgo.de/digitale-angebote/kriegsende-in-lemgo-1945

www.liparchiv.hypotheses.org/67

www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/k-l/1181-lemgo-nordrhein-westfalen


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