Neue Westfälische - Tageblatt für Schloß Holte-Stukenbrock ,
01.04.2020 :
Als Kind Zwangsarbeit geleistet
Der Arbeitskreis "Blumen für Stukenbrock" veröffentlicht die Erinnerungen des Moskauers Wladimir Naumow / Als Elfjähriger wurde er nach Deutschland verschleppt
Sigurd Gringel
Schloß Holte-Stukenbrock. 1. April 1945, Ostersonntag. In Stukenbrock-Senne wollen die Menschen zur Kirche gehen. Doch Pastor Anton Bangen läuft den Gläubigen aufgeregt entgegen. Die Amerikaner kommen. Der Ostergottesdienst fällt aus. Einen Tag später werden die Amerikaner das Kriegsgefangenenlager "Stalag 326" befreien und einen Eindruck von dem Grauen und Leid erhalten, das Zigtausende dort erfahren mussten. Der Arbeitskreis "Blumen für Stukenbrock" hat jetzt die Erinnerungen von Wladimir Naumow als Broschüre herausgebracht. Naumow kam als so genannter Kinderzwangsarbeiter nach Deutschland.
Anfang Mai 1941 begannen auf Befehl deutscher Wehrmachtsoffiziere die Arbeiten für das Stalag 326. Das Lager wurde schon unmittelbar nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 mit den ersten Kriegsgefangenen belegt. Mehr als 7.000 erreichten die Senne am 7. Juli 1941. In Viehwaggons der Reichsbahn wurden sie zum Bahnhof Hövelhof gebracht und mussten dann, völlig erschöpft, den langen Fußmarsch zum Lager am Lippstädter Weg - auf dem Gelände ist heute die Polizeischule beheimatet - zurücklegen. Die ersten Gefangenen mussten das Lager mit primitivem Werkzeug selbst aufbauen. Rund 340.000 Menschen wurden zwischen 1941 und 1945 durch das Lager geschleust. Die Anzahl der Toten wird auf 65.000 geschätzt.
Professor Wladimir Naumow leistete im Alter von 11 bis 13 Jahren Zwangsarbeit in einer Textilfabrik, traf auf Gefangene aus dem Stalag und nahm an der Einweihung des Obelisken teil. Mittlerweile hat er den Ehrenfriedhof einige Male besucht.
Naumow ist Sohn eines russischen Militärangehörigen und einer Kinderärztin, der Kriegsbeginn im Osten trennte ihn von seinen Eltern. Zum Zeitpunkt des Angriffs der Deutschen auf die Sowjetunion im Sommer 1941 verbrachten der achtjährige Wladimir und seine sechs Jahre ältere Schwester die Ferien bei den Großeltern in Smolensk, etwa 250 Kilometer westlich der Heimatstadt Moskau. Ein Wiedersehen mit den Eltern sollte erst Jahre später erfolgen. In der zweijährigen Besatzungszeit wurde Wladimirs Onkel sein Vaterersatz.
Wenige Tage bevor die Rotarmisten im September 1943 Smolensk zurückeroberten, wurden die überlebenden Bewohner in ein Lager bei Minsk getrieben und dann in Viehwagen nach Deutschland transportiert. Wladimir Naumow und sein Cousin Viktor blieben zusammen, sie kamen in ein Durchgangslager in Soest, das Naumow in seiner Erinnerung als "Sklavenmarkt" bezeichnet. Von dort wurden die beiden Kinder als Ostarbeiter in die Textilfabrik Bleiche AG nach Brackwede geschickt.
Wie viele Kinder dieses Schicksal erlitten, ist ungewiss. Das Thema ist wenig erforscht. Die Zahl von 1.000 Kindern im Kreis Gütersloh hat Gedenkstättenleiter Oliver Nickel in der Literatur gefunden, die Zahl ist aber nicht belegt. Erhalten sind Personalkarten, auf denen Kinder und Jugendliche teilweise als "Banditen" bezeichnet wurden. Für Oliver Nickel ist das ein "Trick", um Kinder damals in die Zwangsarbeit schicken zu können. "Es geht um die Arbeitskraft", sagt er. Belegt ist, dass schon Kinder im Alter von neun Jahren derart missbraucht wurden.
Der "Vieräugige" schlägt brutal zu
Wladimir Naumow war elf. Mit anderen Arbeitern lebte er auf dem Fabrikgelände, die Verantwortung für die Menschen lag bei den Betrieben. Nach seiner Beschreibung arbeiteten auch Kriegsgefangene aus dem Stalag 326 dort. "Unsere Lebensbedingungen glichen denen der Gefangenen: dieselben dreistöckigen Etagenbetten, dieselbe Ernährung: einmal am Tag Steckrübensuppe, Kaffee-Ersatz morgens und abends sowie ein Laib Brotersatz zur Hälfte aus Sägemehl für fünf Personen. Der Unterschied bestand nur darin, dass die Kriegsgefangenen militärisch bewacht wurden und in Baracken hinter doppeltem Stacheldraht eingesperrt waren."
Wladimir Naumow war der jüngste Arbeiter, für ihn gab es zwei Ausnahmen: Er musste nur zehn statt zwölf Stunden arbeiten und auch nur tagsüber. Sein zwei Jahre älterer Cousin Viktor wurde schon als Erwachsener angesehen. Naumow erinnert sich an einen besonders brutalen Meister, den die Gefangenen wegen seiner Brille den "Vieräugigen" nannten. Er schlug brutal zu, wenn sich ein erschöpfter Arbeiter hinsetzte. Auch vor Kindern machte der Vieräugige keinen Halt. Und Naumow erinnert sich an die Bombenangriffe der Alliierten, die viele Betriebe und ganze Wohngebiete in Ruinen verwandelten. "Wie ein Wunder überlebten wir in dieser Hölle."
In den letzten Märztagen, kurz vor dem Ankommen der Amerikaner, wurde das Lager auf dem Fabrikgelände aufgelöst und die Gefangenen wurden abtransportiert. Einigen gelang die Flucht und Rückkehr ins Lager. Als die Amerikaner die Lager in Brackwede und Stukenbrock-Senne am 2. April befreiten, kam Wladimir Naumow in ein Auffanglager für Ostarbeiter nach Augustdorf.
Wladimir Naumow war anwesend, als einen Monat später, am 2. Mai, die Fertigstellung des Obelisken auf dem heutigen Ehrenfriedhof gefeiert wurde. "Ich erinnere mich noch gut an die feierliche Zeremonie am Monument, an die Reden der ehemaligen Gefangenen des Stalag und der Vertreter der amerikanischen Heerführung, den zeremoniellen Aufmarsch der amerikanischen Soldaten und die Salutschüsse zur Erinnerung an die sowjetischen Soldaten, die in der Erde von Stukenbrock ruhen." Vier Monate nach Kriegsende, am 17. September 1945, traf Wladimir Naumow nach zwei Jahren Zwangsarbeit zum ersten Mal seine Eltern und seine Schwester wieder. Diesen Tag hat die Familie ein Leben lang gefeiert wie einen zweiten Geburtstag.
Arbeitskreis hält Erinnerung wach
Der Arbeitskreis "Blumen für Stukenbrock" hat sich in den 60er Jahren gebildet und ist seit 1984 ein gemeinnütziger Verein. Bis heute organisiert er Mahn- und Gedenkveranstaltungen in Stukenbrock-Senne. Jetzt hat er eine Broschüre unter dem Titel "Erlebte Vergangenheit" herausgebracht. Es sind die Erinnerungen des Moskauer Professors Wladimir Naumow, der als Elfjähriger als so genannter Kinderzwangsarbeiter in der Textilfabrik Bleiche AG in Brackwede arbeiten musste. Vor einigen Jahren ist der Kontakt zu "Blumen für Stukenbrock" entstanden, Naumow hat die Gedenkstätte und den Ehrenfriedhof seitdem einige Male besucht. (gri)
Bildunterschrift: Im September 2015 nahm Wladimir Naumow zusammen mit seinem Enkel Wanja an einer Gedenkveranstaltung des Arbeitskreises "Blumen für Stukenbrock" am Obelisken teil. 70 Jahre nach der Errichtung des Mahnmals.
Bildunterschrift: Der Besuch des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck zum 70. Jahrestag des Kriegsendes setzte eine Aufwertung des Stalag 326 in Gang. Hin zu einer Gedenkstätte von nationaler und internationaler Bedeutung.
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Neue Westfälische - Tageblatt für Schloß Holte-Stukenbrock, 01.04.2020:
Schloß Holte-Stukenbrock: Als Kind Zwangsarbeit geleistet
Im Kindesalter erlebte Wladimir Naumow die Befreiung des Stalag 326 und die Errichtung des Obelisken als Mahnmal mit. Vor einigen Jahren ist der Kontakt zum Arbeitskreis "Blumen für Stukenbrock" entstanden. Der Arbeitskreis veröffentlicht jetzt die Erinnerungen Naumows.
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Am 2. April 1945 befreiten amerikanische Soldaten die im "Stammlager 326 (VI K) Senne" Überlebenden, etwa 8.500 Gefangenen, bis dahin hatten insgesamt 307.679 Rotarmisten das Stalag Senne durchlaufen.
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www.blumen-fuer-stukenbrock.eu
www.stalag326.de
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