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Lippische Landes-Zeitung , 30.03.2020 :

Wie Kinder die letzten Kriegstage erlebten

Zeitzeugen-Berichte von Waltraud Hantzsch, Horst Steinkühler Nikolaus Bora, Hans Reuter und Carola Feldmann

Oerlinghausen (bi). Wie sie als Kinder die letzten Kriegstage vor 75 Jahren erlebt haben, berichten fünf gebürtige Oerlinghauser.

Waltraud Hantzsch, geborene Ober, Jahrgang 1938: Direkt vor ihrem Elternhaus am Steinbült 4 fuhr am Ostermontag ein riesiger amerikanischer Panzer in Stellung. Das konnten die Frauen und Kinder aus den Kellerfenstern erkennen. Ihre größte Sorge war, dass er in das Haus feuern würde, denn kurz zuvor hatte sich noch ein Trupp von zehn bis 15 deutschen Soldaten in den oberen Räumen aufgehalten. "Meine Mutter hat die Jugendlichen mit Bratkartoffeln versorgt", sagt sie. Ein junger Soldat hatte solche Angst, dass er sich in den oberen Räumen verstecken wollte. Was aus ihnen geworden ist, weiß Waltraud Hantzsch nicht. Sie sah nur, dass der Panzer später vom Steinbült aus über die steile Göddernstraße zur Kirche emporfahren wollte. Da dies nicht gelang, walzte er durch die Robert-Koch-Straße zurück und dann wohl weiter Richtung Stadtmitte. Oberhalb des Schützenplatzes hatten sich ebenfalls mehrere deutsche Soldaten in Gräben verschanzt.

Horst Steinkühler, Jahrgang 1936: "Meine Mutter, meine vier Geschwister und ich, sowie zwei befreundete Frauen mit je einem Kind hockten auf einem Matratzenlager im Keller unseres Hauses. Es ist heute der kleine Anbau an der Stadtverwaltung Richtung Ravensberger Straße." Steinkühlers Vater stand in diesen Tagen an der Ostfront und wurde seither als vermisst gemeldet. "Mein Bruder Egon hatte eigentlich Konfirmation, und unsere Mutter hatte schon mehrere Obstkuchen gebacken." Drei Tage saßen sie im Keller fest und aßen dabei vor allem die Konfirmationskuchen auf. Am schlimmsten erschreckte die Kinder, als sie durchs Kellerfenster sahen, wie die verwundeten deutschen Soldaten von Sanitätern über die Howe zum kleinen Lazarett unter der Weberei gebracht wurden. Steinkühler: "Die Schreie der Verwundeten konnten wir bis zu uns hören."

Nikolaus Bora, Jahrgang 1936, lebt heute in Berlin: Die Mutter war mit ihm, der damals noch Hans-Ludwig Kindsgrab hieß, vom Wohnhaus an der Reuterstraße in den Bunker unter der Weberei geflüchtet. (Viele Jahre später nahm Kindsgrab als ARD-Korrespondent den Namen Nikolaus Bora an). Sehen konnte er aus dem Kellerfenster die jungen deutschen Soldaten in den Gärten. "Sie holten aus unserem Keller den Kartoffelsalat, den meine Mutter für die Konfirmation meiner Cousine Loremarie Puls vorbereitet hatte." Grausige Eindrücke kamen später: "Mit Bollerwagen wurden die getöteten deutschen Soldaten zum Friedhof gebracht."

Hans Reuter, Jahrgang 1939, lebt heute in Fürth: "Wir wohnten damals an der Detmolder Straße 72, neben der Möbelfabrik Arndt. Mein Onkel Fritz Reuter war Ortsgruppen-Propagandaleiter der NSDAP." In der Woche vor Ostern wurden mit dem Strom der Flüchtlinge auch noch russische Kriegsgefangene durch Oerlinghausen nach Osten getrieben. "Einige der armen Gestalten in zerlumpten Anzügen sperrte man vorübergehend in die Werkstatt der Möbelfabrik." Sie steckten die Hände durch das Fenster und flehten um Brot. "Meine Mutter gab mir ein Kastenbrot, das ich ihnen hinhielt, sie rissen es mir aus den Händen", sagt er. Am Ostersonntag zogen Mutter und Oma Reuter mit Hans über die Oetenhauser Chaussee nach Währentrup zu Tante Jette auf Niemanns Hof. Erst am Tag nach Ostern rückten dort die Amerikaner an. Der erste Panzer richtete seine Kanone auf das Hofgebäude. "Doch Tante Jette lief wie eine Furie allein auf den Panzer zu." Sie hatte Erfolg, es fiel kein Schuss.

Carola Feldmann, geb. Güse, Jahrgang 1938: "Meine Mutter sagte, am Freibad hätte der Volkssturm noch eine Panzersperre gebaut. Das sei ja wohl ein Witz", erinnert sich Carola Feldmann. Am Welschenweg 14a wohnte die Familie damals, der Vater war Soldat. Die amerikanischen Panzer kamen am zweiten Ostertag schon vom Naturfreundehaus aus den Welschenweg heruntergefahren. Die US-Soldaten hatten sich dann vorübergehend im Lebensmittelgeschäft Altenbernd eingerichtet. "Auf unserer Veranda saßen noch drei junge deutsche Soldaten und putzten ihre Gewehre. Als meine Mutter von den Amerikanern berichtete, machten die Jugendlichen sich auf, um sie anzugreifen. Kurze Zeit darauf waren alle drei tot. Die Nachbarsfrauen legten sie später auf Hollmanns Wiese ins Gras", sagt sie. Die amerikanischen Soldaten seien vor allem zu den Kindern meist sehr freundlich gewesen. Noch nie auch hatten Oerlinghauser Kinder zuvor farbige Menschen gesehen.

Bildunterschrift: Auf dem Friedhof vor der Friedhofskapelle stehen Gedenksteine für die Gefallenen. Hier ein Stein für die Rotkreuz-Helferin Frieda Schlüter.

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Lippische Landes-Zeitung, 30.03.2020:

Die Befreiung Oerlinghausens

Stadtgeschichte: Ein fanatischer 24-jähriger Oberleutnant wollte mit 75 jugendlichen Soldaten aus der Stadt "ein zweites Stalingrad machen" / Fast alle starben in jenen dramatischen Kriegstagen vor 75 Jahren

Horst Biere

Oerlinghausen. Vor 75 Jahren - es ist Ostersonntag, der 1. April 1945. Ein sonniger Frühlingsmorgen, doch ein dumpfes Grummeln wie ein aufziehendes Gewitter ist aus der Senne zu hören. Die amerikanischen Truppen sind im Anmarsch auf den Teutoburger Wald. Überall ziehen sich die deutschen Einheiten gegen die enorme Übermacht an Soldaten, Panzern und Geschützen zurück. Und seit Tagen schon treibt ein schier endloser Strom von zivilen Flüchtlingen und Wehrmachtssoldaten durch die Stadt nach Osten.

Kurz nach Mittag des ersten Ostertages ertönt auf der Hauptstraße, der damaligen Adolf-Hitler-Straße, aus Lautsprechern die Durchsage: "Feindliche Panzer sind in Paderborn. Oerlinghausen wird zur Festung erklärt. Alle Befehlsgewalt hat der Stadtkommandant. Die Zivilbevölkerung hat die Stadt innerhalb von zwei Stunden zu verlassen." Viele ziehen mit Handwagen und Karren über die Detmolder Straße Richtung Helpup, doch die meisten Oerlinghauser bleiben in ihren Häusern und verstecken sich in den Kellern. Eigentlich hätte es ein doppelter Festtag für viele Familien werden sollen, denn an Ostern sollten auch die Konfirmationen in Oerlinghausen stattfinden.

Durch seine Berglage ist Oerlinghausen für eine der letzten deutschen Verteidigungslinien offenbar geeignet. Ein junger 24-jähriger Oberleutnant will als Befehlshaber einer Truppe von etwa 75 jugendlichen Soldaten "als letztes Aufgebot" die hochgerüsteten Alliierten am Tönsberg aufhalten. Er wolle aus Oerlinghausen "ein zweites Stalingrad machen", soll er gesagt haben. Die 15- bis 23-Jährigen sind Angehörige des Panzergrenadier-Ersatz und Ausbildungsbataillons 62, die man in Lippspringe in einem Kurzlehrgang ausgebildet hatte. Weitere Oerlinghauser Jugendliche sind ins Rathaus (heute Fliesenhaus) beordert worden. "Ich wollte mich auch melden, doch als sie mit Waffen wieder herauskamen, bin ich zurück nach Haus gelaufen", sagt der heute 92-jährige Werner Höltke.

Gegen 18 Uhr am Ostersonntag fallen die ersten Schüsse. Zunächst noch mit leichten Waffen feuern die US-Truppen von der Holter Straße aus auf die Stadt. Die deutschen Soldaten, die sich am Tönsberg und am Menkhauser Berg festgesetzt haben, erwidern das Feuer. Einige Gebäude von Sültemeiers Hof (heute Oerly Musikschule) und am Welschenweg gehen in Flammen auf. Im Schutz der Dunkelheit rücken die amerikanischen Soldaten vor. Am zweiten Ostertag in der Frühe rollen die ersten schweren Panzer Richtung Innenstadt. Sie walzen alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellt. Erbitterter Häuserkampf beginnt, denn der größenwahnsinnige Oberleutnant hatte die jungen Soldaten in kleine Trupps aufgeteilt und ihnen befohlen, mit ihren leichten Gewehren und Panzerfäusten die Panzer und US-Infanteristen aufzuhalten. Heftige Feuergefechte brechen rings um die Häuser und Gärten am Südhang des Tönsbergs aus. Die Amerikaner schießen aus allen Rohren auf den Tönsbergkamm und den Bereich rund um die Alexanderkirche. Den fanatisierten Jungsoldaten gelingt es tatsächlich, den ersten amerikanischen Panzer, der sich der Kirche nähert, kampfunfähig zu schießen. Doch sofort wird ihr Versteck in einem Gebäude am Tönsberg mit einem Feuerhagel überzogen. Es dauert eine Weile, bis die US-Truppen den Panzer aus der Straßenenge zurückgezogen haben, um weiter vorrücken zu können. Die Amerikaner besetzen das Pfarrhaus und die Kirche. Drei Mal wechselt die Jugendherberge innerhalb weniger Stunden die Besetzer.

Scharfschützen der US-Truppen klettern im Kirchturm empor und schießen präzise auf alles, was sich bewegt. Als ein deutscher Soldat im Bereich der Wehme zusammenbricht, rennt die Rotkreuz-Helferin Frieda Schlüter von ihrem Elternhaus an der Pfarrstraße los, um ihm zu helfen. Doch bevor sie ihn erreicht hat, wird sie oberhalb des Kindergartens selbst von der Gewehrkugel getroffen.

Mehrere Gebäude an der Hauptstraße und der Tönsbergstraße sind in Brand geschossen, aus deren Kellern die Hausbewohner nun flüchten. Viele Oerlinghauser haben auch in dem engen Bunkertunnel unter dem Tönsberg (hinter dem heutigen Bürgerhaus) und in einem Bunker unter der Weberei Zuflucht gefunden. Bis zum Abend des 3. April leisten die deutschen Soldaten in der Stadt und auch in der Schopke noch Widerstand, dann ist Oerlinghausen endlich befreit. Die letzten versprengten Gruppen haben sich Richtung Helpup und Stapellage abgesetzt. Fast 70 deutsche Soldaten sind umgekommen, fünf zivile Opfer sind zu beklagen. Wie viele Amerikaner ihr Leben ließen, ist unbekannt. Unablässig rollen nun die Kolonnen von US-Panzern, Lastwagen und Jeeps durch die zerstörte Innenstadt Richtung Lage und Lemgo.

Text unten

Bildunterschrift: Amerikanische Sherman-Panzer rollten auch durch Oerlinghausen.

Bildunterschrift: Das umkämpfte Zentrum Oerlinghausen. Viele der Häuser wurden Ostern 1945 in Brand geschossen.

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Lippische Landes-Zeitung, 30.03.2020:

Kreis Lippe: Die Bergstadt sollte "ein zweites Stalingrad" werden

Oerlinghausen. Ein 24-jähriger Oberleutnant wollte mit 75 Jugendlichen Soldaten in den letzten Kriegstagen als "letztes Aufgebot" die vorrückenden Alliierten am Tönsberg aufhalten. Er soll von "einem zweiten Stalingrad" gesprochen haben.

Seite 21

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www.oerlinghausen.de/de-wAssets/docs/Erinnerungsbuch_NS-Opfer_Oerlinghausen_dritte_Ausgabe_2019.pdf


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