Neue Westfälische - Kreiszeitung für Warburg ,
28.03.2020 :
Vom verheerenden Phosphorfeuer zerstört
Beim Einmarsch der Amerikaner am 1. April vor 75 Jahren starben in Borgentreich mindestens neun Menschen / 113 Wohnhäuser und 284 Wirtschaftsgebäude, gut ein Drittel der Stadt, wurden völlig vernichtet
Günter Schumacher und Dieter Scholz
Borgentreich. "1945 - das schicksalschwerste Jahr seit Menschengedenken" - so schrieb es die damalige Ortschronistin Elisabeth Falke nieder. Und in diesem für Borgentreich so schicksalsschwerem Jahr war der Ostersonntag, der 1. April 1945, der bitterste.
Eine Schreckensbilanz: 113 vollkommen niedergebrannte Wohnhäuser, 43 völlig zerstörte Pferde- und 78 Kuhställe, 79 Schweineställe, 20 Scheunen und 59 Schuppen. Unter der Zivilbevölkerung waren zwei Tote zu beklagen. Die 23-jährige Margret Bartoldus und der 12-jährige Josef Dürdoth starben im Kugelhagel. Mehr als 500 Stück verbranntes oder ersticktes Großvieh lag auf den Straßen oder unter den Trümmern. Keine Ortschaft in der Warburger Börde war so schwer getroffen wie die Orgelstadt. Am Vormittag des 1. April 1945 verlor Borgentreich sein vormaliges Gesicht.
Am 31. März nehmen amerikanische Truppen Warburg ein. "Auch in der Nachbarstadt ist man auf alles gefasst", sagt Ortschronist Hubertus Hartmann. Am ersten Ostertag rücken die Amerikaner weiter vor, feuern einige Warnschüsse ab, die aus der Stadt "von den hier zerstreuten deutschen Soldaten erwidert" werden, schreibt Falke.
Schon während der Frühmesse in der Pfarrkirche sind an diesem Ostersonntag Maschinengewehrschüsse zu hören. Aus Richtung Lütgeneder marschieren die Amerikaner auf Borgentreich zu. Versuche der Alliierten, aus dem bereits eroberten Warburg übers Telefon eine Übergabe der Stadt zu vereinbaren, scheitern an einer starrköpfigen Führung im Borgentreicher Rathaus. Man wolle "bis zum letzten Mann kämpfen" heißt es und besiegelt damit das Schicksal der Stadt.
Rund zwei Dutzend deutsche Soldaten hatten in der Nacht in der alten Volksschule am Steinweg übernachtet. "Das waren alles junge Bengel", erinnerte sich vor Jahren ein Zeitzeuge. Die hätten zwei Maschinenpistolen, eine Panzerfaust und ein paar Karabiner dabei gehabt. Damit sollten der Einmarsch der Amerikaner gestoppt werden. Lediglich an der Eissener Straße habe sich noch ein kleiner Posten befunden, der sich aber in Richtung Borgholz zurückzogen habe.
Die vom Steinweg kommenden jungen Soldaten marschieren auf den Mühlenberg, graben sich mit ihren Waffen auf freiem Feld ein. dann fährt ein deutscher Offizier am Haus Diekmann vor. Er ruft die Soldaten vom Mühlenberg zusammen und erklärt Borgentreich als vorgeschobenen Brückenkopf der Weser-Linie, der unbedingt zu halten sei. Er lässt eine Schnapsflasche kreisen, schickt die Jugendlichen in einen aussichtslosen Kampf.
"Die Bürger in ihrer Angst krochen in die Keller und beteten"
Die amerikanischen Panzer kommen in Sichtweite, Maschinengewehr-Salven peitschen durch die Mühlenstraße. Gute zwei Stunden prasseln nach den Phosphorgranaten die Kugeln und über die Köpfe der schlecht ausgerüsteten Soldaten auf dem Mühlenberg hinweg auf die Häuser der Stadt. Borgentreich wird sturmreif geschossen.
In nur wenigen Minuten ist die halbe Stadt ein einziges Flammenmeer. Die Familien suchen Zuflucht in den Kellern. Aus den Häusern, aus denen die Flammen schießen, flüchten sie. Wie die Dohmanns aus ihrer Gaststätte mit rund 50 gefangenen italienischen Offizieren, die im Kinosaal einquartiert waren. Im Felsenkeller unter dem Mühlberg wollen sie Schutz suchen. Auf dem Weg kommen sie am Haus Dürdoth vorbei: Auch aus dessen verrauchtem Keller fliehen Familien. Ihr Ziel sind die Splittergräben, die am Judenhagen angelegt waren. Josef Dürdoth ist 12, wird im Hagel der Gewehrkugeln an der Halsschlagader getroffen und verblutet. Sein Vetter erleidet einen Armdurchschuss und einen Schuss in die Seite. Die Flüchtenden finden im Hagen einen erschossenen 17-jährigen deutschen Soldaten, der sich vom Mühlenberg zurückgezogen hatte.
Im Judenhagen wird es zu gefährlich, die Leute rennen zum Mühlenhof, hinab zum Kälberkamp, an der Schießanlage der Schützenbruderschaft vorbei in den Felsenkeller. Es ist ein Wunder, dass sie unter dem Beschuss heil durchkommen. Im Felsenkeller am Lehmberg harren dicht an dicht gedrängt weit mehr als 100 Menschen aus, draußen ist das MG-Feuer und das krachende Gebälk brennender Dachstühle zu hören.
"Wie ein Hagelwetter prasselten Artillerie- und Maschinengewehr-Geschosse in die Straßen und Gassen, in Mauern und Wände, Türen und Fenster. Die Bürger in ihrer Angst krochen in die Keller und beteten", schreibt Lehrerin Falke später in die Chronik. Neben den beiden jungen Borgentreichern sterben zwei italienische Fremdarbeiter in den Trümmern. "An deutschen Soldaten blieben fünf auf dem Kampfplatze, davon vier in zwei Doppelgräbern auf unserm Friedhof ruhen. Auch die Amerikaner hatten einige Verluste", berichtet Chronistin Falke.
In den nächsten Tagen wird in Borgentreich aufgeräumt. Hunderte verbrannter und aufgeblähter Tierkadaver werden aus den Trümmern gezogen. Der Geruch bleibt vielen ein Leben lang in der Nase. "Das Vieh, das losgebunden werden konnte, irrte herrenlos heulend und brüllend in den bitterkalten Nächten in der Wildnis umher", sagt Chronist Hartmann.
Der Versuch Borgentreich zurückzuerobern: Noch in der ganzen folgenden Osterwoche wird die Stadt von deutscher Flak heimgesucht. Die Artillerie liegt im Gebiet Rote Breite, Klus Eddessen, Bühne und Hoher Berg. Am Samstag vor dem Weißen Sonntag fällt der letzte Schuss. Bis in den Juni halten US-Truppen die Bördestadt besetzt, bevor sie von Engländern abgelöst werden.
Die Borgentreicher Chronik online unter www.chronik-borgentreich.jimdofree.com.
Bildunterschrift: Der Steinweg in Borgentreich 1940: Beim Einmarsch der US-Truppen am 1. April 1945 wurden nahezu sämtliche Fachwerkhäuser zerstört.
Bildunterschrift: GIs nach dem Einmarsch in Borgentreich und in der Borgentreicher Kirche.
Bildunterschrift: In den ersten Kriegsjahren zog zum "Tag der Arbeit" noch ein großer Festzug durch den Steinweg.
Mistgabel im Rücken: Ein Mord, der nie aufgeklärt wurde
"Von allem, was das Volk erlebt hatte, war es so aufgebracht, daß es sich tätlich an einem Beamten des Amtes vergriff, der durch Schuß eines Amerik. getötet wurde", schildert Elisabeth Falke in der Chronik.
Der getötete Beamte ist der NSDAP-Mann Josef Stauf, ein enger Freund des damaligen Bürgermeisters Franz Woker. Er holt Stauf 1938 oder 1939 aus Köln ins Borgentreicher Rathaus. Stauf bezeichnet sich als "Luftschutzleiter und Polizei im Außendienst". Ein bedingungslos linientreuer Parteigänger, der in der Verwaltung Mitarbeiter bespitzelt und denunziert und nach Zeugenaussagen auch Zwangsarbeiter körperlich schwer misshandelt. "Der Stauf war ein ganz übler Nazi und im Ort gefürchtet", beschreibe nach Angaben des heutigen Ostchronisten Hubertus Hartmann ein Zeitzeuge. Woker nennt Stauf seinen "verlässlichsten Vertrauensmann".
Über den Tod Josef Staufs schreibt Hannes Tölle, der die letzten Kriegsjahre als Evakuierter in Borgentreich erlebt hatte, in seinen Erinnerungen "Drei Jahre in Borgentreich - 1945 bis 1948": "Der oberste NSDAP-Mann von Borgentreich lag beim Einrücken der Amerikaner mit einer Mistgabel erstochen mitten auf der Straße." Wer den verhassten NSDAP-Funktionär umgebracht hat, wird nie geklärt. (red)
Bildunterschrift: Franz Woker war NSDAP-Mitglied und Bürgermeister in Borgentreich. Sein Porträt hängt im Rathaus. Seine Rolle ist nicht unumstritten.
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Neue Westfälische - Kreiszeitung für Warburg, 28./29.03.2020:
Borgentreich brennt
Borgentreich. Vor 75 Jahren: Ende März marschieren die Amerikaner auf die Weser zu. Am Ostersonntag 1945 wird Borgentreich zu einem einzigen Flammenmeer.
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www.chronik-borgentreich.jimdofree.com/1931-194
28./29.03.2020
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