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Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt , 28.03.2020 :

Die Befreiung Oerlinghausens

Stadtgeschichte: Ein fanatischer 24jähriger Oberleutnant wollte mit 75 jugendlichen Soldaten aus der Stadt "ein zweites Stalingrad machen" / Fast alle starben in jenen dramatischen Kriegstagen

Horst Biere

Oerlinghausen. Vor 75 Jahren - es ist Ostersonntag, der 1. April 1945. Ein sonniger Frühlingsmorgen, doch ein dumpfes Grummeln wie ein aufziehendes Gewitter ist aus der Senne zu hören. Die amerikanischen Truppen sind im Anmarsch auf den Teutoburger Wald. Überall ziehen sich die deutschen Einheiten gegen die enorme Übermacht an Soldaten, Panzern und Geschützen zurück. Und seit Tagen schon treibt ein schier endloser Strom von zivilen Flüchtlingen und Wehrmachtssoldaten durch die Stadt nach Osten.

Kurz nach Mittag des ersten Ostertages ertönt auf der Hauptstraße, der damaligen Adolf-Hitler-Straße, aus Lautsprechern die Durchsage: "Feindliche Panzer sind in Paderborn. Oerlinghausen wird zur Festung erklärt. Alle Befehlsgewalt hat der Stadtkommandant. Die Zivilbevölkerung hat die Stadt innerhalb von zwei Stunden zu verlassen." Viele ziehen mit Handwagen und Karren über die Detmolder Straße Richtung Helpup, doch die meisten Oerlinghauser bleiben in ihren Häusern und verstecken sich in den Kellern. Eigentlich hätte es ein doppelter Festtag für viele Familien werden sollen, denn an Ostern sollten auch die Konfirmationen in Oerlinghausen stattfinden.

Durch seine Berglage ist Oerlinghausen für eine der letzten deutschen Verteidigungslinien offenbar geeignet. Ein junger 24jähriger Oberleutnant will als Befehlshaber einer Truppe von etwa 75 jugendlichen Soldaten "als letztes Aufgebot" die hochgerüsteten Alliierten am Tönsberg aufhalten. Er wolle aus Oerlinghausen "ein zweites Stalingrad machen", soll er gesagt haben. Die 15- bis 23jährigen sind Angehörige des Panzergrenadier-Ersatz und Ausbildungsbataillons 62, die man in Lippspringe in einem Kurzlehrgang ausgebildet hat.

Werner Höltke macht rechtzeitig kehrt

Weitere Oerlinghauser Jugendliche sind ins Rathaus (heute Fliesenhaus) beordert worden. "Ich wollte mich auch melden, doch als sie mit Waffen wieder herauskamen, bin ich zurück nach Haus gelaufen", sagt der heute 92-jährige Werner Höltke.

Gegen 18 Uhr am Ostersonntag fallen die ersten Schüsse. Zunächst noch mit leichten Waffen feuern die US-Truppen von der Holter Straße aus auf die Stadt. Die deutschen Soldaten, die sich am Tönsberg und am Menkhauser Berg festgesetzt haben, erwidern das Feuer. Einige Gebäude von Sültemeiers Hof (heute Oerly Musikschule) und am Welschenweg gehen in Flammen auf. Im Schutz der Dunkelheit rücken die amerikanischen Soldaten vor. Am zweiten Ostertag in der Frühe rollen die ersten schweren Panzer Richtung Innenstadt, sie walzen alles nieder was sich ihnen in den Weg stellt. Erbitterter Häuserkampf beginnt, denn der größenwahnsinnige Oberleutnant hatte die jungen Soldaten in kleine Trupps aufgeteilt und ihnen befohlen mit ihren leichten Gewehren und Panzerfäusten die Panzer und US-Infanteristen aufzuhalten. Heftige Feuergefechte brechen rings um die Häuser und Gärten am Südhang des Tönsbergs aus. Die Amerikaner schießen aus allen Rohren auf den Tönsbergkamm und den Bereich rund um die Alexanderkirche. Den fanatisierten Jungsoldaten gelingt es tatsächlich, den ersten amerikanischen Panzer, der sich der Kirche nähert, kampfunfähig zu schießen. Doch sofort wird ihr Versteck in einem Gebäude am Tönsberg mit einem Feuerhagel überzogen. Es dauert eine Weile bis die US-Truppen den Panzer aus der Straßenenge zurückgezogen haben, um weiter vorrücken zu können. Die Amerikaner besetzen das Pfarrhaus und die Kirche. Drei Mal wechselt die Jugendherberge innerhalb weniger Stunden die Besetzer.

Scharfschützen der US-Truppen klettern im Kirchturm empor und schießen präzise auf alles, was sich bewegt. Als ein deutscher Soldat im Bereich der Wehme zusammenbricht, rennt die Rotkreuz-Helferin Frieda Schlüter von ihrem Elternhaus an der Pfarrstraße los, um ihm zu helfen. Doch bevor sie ihn erreicht hat, wird sie oberhalb des Kindergartens selbst von der Gewehrkugel getroffen.

Mehrere Gebäude an der Hauptstraße und der Tönsbergstraße sind in Brand geschossen, aus deren Kellern die Hausbewohner nun flüchten. Viele Oerlinghauser haben in dem engen Bunkertunnel unter dem Tönsberg (hinter dem heutigen Bürgerhaus) und in einem Bunker unter der Weberei Zuflucht gefunden. Bis zum Abend des 3. April leisten die deutschen Soldaten in der Stadt und auch in der Schopke noch Widerstand, dann ist Oerlinghausen befreit. Die letzten versprengten Gruppen haben sich Richtung Helpup und Stapellage abgesetzt. 70 deutsche Soldaten sind gefallen, fünf zivile Opfer sind zu beklagen. Wie viele Amerikaner ihr Leben ließen ist unbekannt. Unablässig rollen nun die Kolonnen von US-Panzern, Lastwagen und Jeeps durch die zerstörte Innenstadt Richtung Lage und Lemgo.

Bildunterschrift: Amerikanische Sherman-Panzer rollten auch durch Oerlinghausen.

Bildunterschrift: Das umkämpfte Zentrum Oerlinghausen. Viele der Häuser wurden Ostern 1945 in Brand geschossen.

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Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt, 28./29.03.2020:

Oerlinghausen / Leopoldshöhe: Über die Befreiung der Bergstadt

Oerlinghausen. Die Befreiung Oerlinghausens jährt sich in diesen Tagen zum 75. Mal. Beim Einmarsch der Amerikaner kam es zu heftigen Kämpfen, weil ein 24-jähriger Oberleutnant aus der Bergstadt "ein zweites Stalingrad" machen wollte. Viele verloren deshalb ihr Leben.

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www.oerlinghausen.de/de-wAssets/docs/Erinnerungsbuch_NS-Opfer_Oerlinghausen_dritte_Ausgabe_2019.pdf

28./29.03.2020

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