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Mindener Tageblatt , 30.04.2005 :

Tag der ganz persönlichen Befreiung / Für den Mindener Hans Bradtmüller bleibt der 5. April 1945 unvergessen / Freude und Trauer

Minden (mt). Den 5. April 1945 wird Hans Bradtmüller nicht vergessen. Es sei der Tag seiner ganz persönlichen Befreiung gewesen, erinnert sich der heute 77-jährige Mindener mit Freude - aber auch mit Trauer über die vielen Menschen, die die Befreiung vom Naziregime nicht mehr erlebten.

Von Hans-Jürgen Amtage

Es war Ende 1944 als Hans Bradtmüller, Sohn einer Jüdin und eines Christen, gemeinsam mit seiner Mutter Frieda von den Nationalsozialisten abgeholt und nach Bielefeld in ein Sammellager gebracht wird. Vater Hermann, ein gelernter Polsterer mit einem eigenen Geschäft in der Königstraße, entgeht der Verhaftung.

In Bielefeld angekommen, untersucht ein SS-Arzt Mutter und Sohn, schickt Frieda Bradtmüller zurück nach Minden. Hans Bradtmüller wird in ein Lager nach Thüringen gebracht. Rund drei Wochen später gelingt es ihm, sich abzusetzen und in die Heimat zurückzukehren.

Die Familie findet vor den Verfolgern Unterschlupf bei Sozialdemokraten, die ein kleines Haus in Stemmer haben. Etwa 80 Personen wohnen in der Siedlung. "Ich möchte wetten, dass alle Bescheid gewusst haben, dass wir dort versteckt wurden", blickt Hans Bradtmüller heute zurück: "Aber keiner hat uns verraten." Bis April bleibt die Familie in ihrem Versteck.

Es ist der 4. April. In den späten Abendstunden spricht sich herum, dass alliierte Streitkräfte in Minden eingedrungen sein sollen. Erste Panzer werden gesehen. "Und die Eisenbahn-Flak, die die ganze Zeit über auf den Schienen in der Nähe stand, war verschwunden", erinnert sich Hans Bradtmüller.

Sein Vater ist angesichts der Entwicklung ganz euphorisch. "Wenn wir durch diesen Krieg kommen, dann ist das wie ein zweites Leben", hatte er einmal sorgenvoll gesagt. Das zweite Leben scheint zum Greifen nahe.

Es ist der 5. April. Hermann Bradtmüllers Euphorie hält an. Gemeinsam mit seinem Sohn wagt er sich in Richtung Innenstadt. "Einzelne weiße Tücher sahen wir unterwegs aus den Fenstern hängen", weiß der damals 17-jährige Hans Bradtmüller noch ganz genau. Sie kommen in Höhe des Kreuzungsbereiches Bierpohlweg/Stiftsallee an und sehen einen kanadischen Panzer die Brücke über den Mittellandkanal sichern. Hans Bradtmüller blickt an dem Panzer vorbei, als sein Blick erschrocken auf einen toten Zivilisten fällt, der auf der Brücke liegt. Warum der Mann getötet wurde, konnte er bis heute nicht klären.

In der Einstiegsluke des Panzers sitzt ein kanadischer Soldat und blickt auf die beiden, die sich trotz aller Warnungen auf den Weg in Richtung Minden gemacht hatten. Irgendwie hat Hans Bradtmüller das Gefühl, dass es sich bei dem kanadischen Soldaten um einen Juden handelt. In Englisch fragt er ihn: "Sind Sie Jude?"

Der Soldat habe ihn überrascht angeguckt, erinnert sich Hans Bradtmüller, als sei die Begegnung erst wenige Stunden her. Warum er frage, wollte der Kanadier wissen. Schon bald stellt sich heraus, dass der Soldat in Offenbach geboren worden und vor den Nazis geflüchtet war. All das erzählte der Befreier in Deutsch. Die beiden Mindener berichten ihm über ihr Schicksal, dass sie sich versteckt gehalten hätten und dass die Mutter sich immer noch versteckt halte.

Der Soldat will spontan helfen. Ob er zu dem Haus, in dem sich Frieda Bradtmüller aufhält, fahren könne, fragt er über Funk seinen Vorgesetzten. Der muss seinen Untergebenen ziemlich zusammengestaucht haben, erzählt Hans Bradtmüller heute lachend. Aus den Kopfhörern, die der Soldat trug, habe es so laut geschallt, dass man fast verstehen konnte, was der Vorgesetzte lauthals schimpfte.

Hans Bradtmüller und sein Vater fragen noch, ob sie die Brücke überqueren könnten, um in die Stadt zu gelangen und nachzusehen, ob an ihrem Haus in der Königstraße alles in Ordnung sei. Der kanadische Soldat warnt die beiden, weil er nicht wisse, was in der Innenstadt vor sich gehe.

Doch sie machen sich auf den Weg. Sie begegnen alliierten Soldaten, die Mindener, die Bradtmüllers zum Teil kennen, gefangen genommen haben. In der Königstraße schauen sie vorbei, um festzustellen, dass ihr Haus unversehrt ist. Freudig und erleichtert berichten sie ihre Eindrücke wenig später Frieda Bradtmüller.

60 Jahre nach dieser Begegnung sagt Hans Bradtmüller selbst, dass es ungeheuer leichtsinnig gewesen sei, sich angesichts der herrschenden Kriegssituation aus dem Versteck zu wagen und sich auf den Weg in die Innenstadt zu machen. Doch die Euphorie sei einfach groß gewesen an diesem Tag der ganz persönlichen Befreiung.

Hans Bradtmüllers Begegnung mit den Kanadiern wird auch Thema eines Beitrages des Westdeutschen Rundfunks sein. Voraussichtlich am kommenden Montag, 2. Mai, ab 19.30 Uhr, wird der Beitrag in der WDR-Lokalzeit gesendet.

30.04./01.05.2005
mt@mt-online.de

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