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Neue Westfälische - Paderborner Kreiszeitung , 27.03.2020 :

"Aus Erinnerungen werden Erzählungen"

Der Historiker Olaf Hartung erklärt, warum auch noch nach 75 Jahren an die Zerstörung Paderborns gedacht wird und weshalb es keinen Sinn macht, individuelles Leid gegeneinander aufzurechnen

Paderborn. Paderborn erlebte am 17. Januar sowie am 22. und 27. März 1945 drei große, verheerende Bombenangriffe, die die Stadt zu großen Teilen zerstörten. Alljährlich wird an diesen Tagen genau zur der Zeit der Bombardements die Totenglocke des Domes geläutet - genau so lange, wie 1945 diese andauerten. An diesen Tagen leuchtet an der Südseite des Domes ganztägig ein Totenlicht. NW-Mitarbeiterin Jutta Steinmetz hat mit dem Paderborner Historiker Olaf Hartung vom Historischen Institut der Universität Paderborn über diese Form des Erinnerns gesprochen.

Herr Hartung, erst einmal die allgemeine Frage: Wieso kommt es zur Ausbildung solchen Erinnerungs-Handelns, das man ja in ähnlicher Art beispielsweise vom Volkstrauertag kennt? Was weiß man über ihre Entstehung?

Olaf Hartung: Grundsätzlich gilt das Bonmot "ohne Erinnerung keine Geschichte". Totengedenken ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Wenn Personen oder größere Gruppen etwas erinnern, handelt es sich jedoch zumeist nicht um passgenaue Umschreibungen von Vergangenheit, sondern um gedeutete und zumeist auch für die Gegenwart und Zukunft sinnbildende Erzählungen. Ein wichtiger Motor von Erinnerungsleistungen ist das Bedürfnis nach lebensgeschichtlicher Selbstverortung. Erinnerungen sind eine Voraussetzung für individuelle und gemeinschaftliche Identität, sie sind aber zugleich abhängig vom sozialen und kulturellen Umfeld, die den Erinnernden Begriffe und Deutungsmuster bereitstellen, um Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. Besonders wichtig scheint das bewusste Erinnern zu sein, wenn Individuen oder auch ganze Bevölkerungen existenzielle Erfahrungen erleiden mussten. Hier dient Erinnern auch der Erhaltung von seelischer Gesundheit, wie es etwa beim Trauern der Fall ist. Als soziale Wesen wollen wir unsere Erfahrungen in Gemeinschaft erinnern, weshalb wir uns symbolische Orte der Erinnerung schaffen, die dann oft kulturell in Form von Symbolen festgeschrieben werden. Hierzu zählen dann auch das an die Bombardierung der Stadt erinnernde Totenlicht im Dom, der Trauergottesdienst und der Gedenktag sowie das Festschreiben von Erinnerungen in Zeitzeugen-Berichten oder Erinnerungsreden. Die verschiedenen Formen der kollektiven Erinnerung stehen oft in einem engen Wechselverhältnis zueinander, vereinzelt können sie aber auch im Gegensatz zu den individuellen Erinnerungen einzelner Menschen stehen.

Jetzt ist der Krieg und damit auch die Zerstörung Paderborns aber schon 75 Jahre her, es leben nur noch wenige Menschen, die diese Ereignisse erlebt haben. Warum hält man trotzdem immer noch an dieser Art der Erinnerungskultur fest?

Hartung: Ganz einfach gesprochen: Weil es weiterhin Menschen gibt, für die es wichtig ist, sich kollektiv zu erinnern. Auch negative Erlebnisse können sinngebend sein. Ein Beispiel hierfür ist die 2005 aus gleichem Anlass gehaltene Rede des damaligen Paderborner Bürgermeisters Heinz Paus, der die "kaum noch vorstellbaren apokalyptischen Ereignisse" von 1945 als "dauerhafte Mahnung zum Frieden" verstanden wissen wollte. Die Zerstörung Paderborns war eine Katastrophe für sämtliche Einwohner der Stadt. Insofern hat dieses extreme Erlebnis in fast jeder Familie seinen Erinnerungsort. Zugleich ist der Luftkrieg aber auch Teil einer viel größeren Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die durch Krisen und Gewalt geprägt war, und die ganz bestimmte Zeitzeugen hervorgebracht hat, nämlich Opfer und Täter, Überlebende und Mitlebende der Kriege und Massenmorde dieser Epoche.

Können solche Erinnerungsrituale überhaupt ein Ersatz sein für Zeitzeugen?

Hartung: Die Frage, ob solche Erinnerungspraktiken Zeitzeugen ersetzen können, ist meines Erachtens nicht ganz treffsicher gestellt, da sie einen Gegensatz auf verschiedenen Ebenen aufmacht. Auch direkt Betroffene haben ein Interesse an einem ritualisierten Gedenken. Darüber hinaus fließen die von Zeitzeugen berichteten Erfahrungen in das kulturelle Gedächtnis mit ein, wie auch die Erinnerungen von Zeitzeugen durch Filme, Bücher und die Erzählungen anderer verändert werden. Zeitzeugen-Erinnerungen sind oft sehr individuell und nur bedingt verallgemeinerbar. Die persönlichen Erfahrungen und die dabei erlebten Gefühle mögen zwar "echt" im Sinne von "wirklich so wahrgenommen" sein, der Bericht darüber ist aber bereits eine Erzählung, deren Konstruktion nicht zuletzt von den persönlichen Überzeugungen, der gesellschaftlichen Position und den Absichten des Erzählers abhängt. Ich will das an einem drastischen Beispiel verdeutlichen: Ein vom Nationalsozialismus überzeugter Parteifunktionär der NSDAP wird den Luftkrieg anders erzählen als ein sowjetischer Kriegsgefangener im Stalag 326 (VI K) Senne, obwohl womöglich beide ähnliche existenzielle Ängste während der Bombardierungen empfunden haben.

Sind Erinnerungsrituale irgendwann obsolet?

Hartung: Als Historiker und Geschichtslehrer antworte ich Ihnen, dass zumindest in Geschichte geronnene Erinnerungen und bestimmt auch viele Formen des Erinnerns nie obsolet sein werden. Was sich jedoch mit zeitlichem Abstand zum erinnerten Ereignis verändert, ist die Art und Weise des Erinnerns und die Bedeutung, die wir dem Erinnerten und der Geschichte beimessen. Mit der Zeit tritt an die Stelle der persönlichen Erinnerungen zunehmend ein Prozess der Historisierung. Welchen Stellenwert wir vergangenen Ereignissen beimessen, ist nicht zuletzt abhängig von dem, was wir danach erlebt haben. So veränderte sich beispielsweise in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg die Wahrnehmung des nunmehr "Erster Weltkrieg" genannten "Großen Krieges". Keinen Sinn macht es, das individuelle Leid von Menschen gegeneinander aufzurechnen. Meines Erachtens muss es möglich sein, individuelles Leid als solches anzuerkennen und zu würdigen, ohne dabei die Zusammenhänge außer Acht zu lassen, wie es zu diesem Leid gekommen ist und wer dafür Verantwortung trägt. Das heißt, eine Verurteilung des Bomber Command der britischen Royal Air Force ohne Berücksichtigung der verbrecherischen Kriegspolitik der Nationalsozialisten ist der geschichtlichen Triftigkeit nicht angemessen.

Was kann man tun, damit diese Erinnerungsrituale, diese Gedenktage nicht zu einem leeren Datum werden?

Hartung: Meines Erachtens sind solche normativen Absichten nur bedingt umzusetzen. Was und wie sich Menschen erinnern, ist in offenen Gesellschaften zumeist Teil umfassender Diskurse, die von den Einstellungen und dem Verhalten der beteiligten Menschen abhängen, die wiederum von diesen Diskursen beeinflusst werden. Die Reichweite der Meinungsbildung ist jedoch abhängig von der jeweiligen gesellschaftlichen Position und Funktion. Politiker, Medienschaffende und Lehrkräfte tragen hier sicherlich eine besondere Verantwortung, dass unsere Geschichtsdeutungen historisch möglichst triftig sind und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen auf das Wohl aller Menschen gerichtet bleiben. Ein Beispiel für eine auf Versöhnung gerichtete Erinnerungspolitik bietet die Englische Stadt Coventry. Am 14. November 1940 flog die deutsche Luftwaffe einen schweren Angriff gegen die Industriestadt und zerstörte dabei auch die dortige mittelalterliche Kathedrale. Der damalige Dompropst deutete das Schicksal seiner Kirche aber nicht als Rechtfertigung für Angriffe auf deutsche Städte. Vielmehr rief er die Gemeinde auf, "alle Gedanken an Vergeltung zu verbannen und die Kirche wiederaufzubauen" und wenn der Krieg zu Ende ist, zu versuchen die Welt "freundlicher" zu machen.

Bildunterschrift: Dieser Anblick zeigt sich dem Betrachter im Jahr 1946 vom Rathaus aus zum Marienplatz.

Bildunterschrift: Olaf Hartung vom Historischen Institut der Uni Paderborn.

Bildunterschrift: Eine Luftaufnahme zeigt das Ausmaß des zerstörten Bahnhofsgelände im Jahr 1945 / 1946.

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Neue Westfälische - Paderborner Kreiszeitung, 27.03.2020:

Erinnerungen an die Zerstörung Paderborns

Paderborn. Am 27. März 1945 wird Paderborn bei einem Bombenangriff in weiten Teilen zerstört. Ein Zeitzeuge und ein Historiker sprechen über Gedenken und Erinnerungen.

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Neue Westfälische - Paderborner Kreiszeitung, 26.03.2020:

Gedenken an Bombardierung in Zeiten von Corona

Paderborn (ber). Ganz anders als sonst wird in Paderborn in diesem Jahr den Toten der Bombardierung im Jahr 1945 gedacht. Am Jahrestag des dritten Luftangriffs am Freitag, 27. März, hält Monsignore Kurte ein Morgengebet um 8 Uhr. Auf Grund der Corona-Pandemie können Gläubige daran nicht persönlich teilnehmen, das Gebet aber live im Internet unter www.erzbistum-paderborn.de mitfeiern.

Dompropst Monsignore Göbel weist schon jetzt auf ein Friedensgebet anlässlich des Jubiläums "75 Jahre Frieden in Europa" hin: Am 24. Juli 2020 ist vor dem Beginn des diesjährigen Libori-Festes ein Friedensgebet geplant, das Erzbischof Hans-Josef Becker und Bischof Yves Le Saux aus dem Partnerbistum Le Mans in Frankreich im Dom halten wollen.

Bereits am 8. Mai soll anlässlich des Endes des Zweiten Weltkriegs ein ökumenischer Friedensgottesdienst gefeiert werden - sofern dann Gottesdienste wieder öffentlich gefeiert werden dürfen.

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Am 27. März 1945 wurde bei den Luftangriffen von (266) schweren Lancaster-Bombern der Royal Air Force (Einheiten des britischen RAF Bomber Command) auf Paderborn die Stadt Paderborn weitgehend zerstört.

Am 22. März 1945, 21.00 Uhr, warfen neun britische Mosquito-Flugzeuge von Einheiten des britischen RAF Bomber Command 17 Tonnen Bomben ab, die den Paderborner Dom und Umgebung, stark beschädigen.

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