Neue Westfälische - Herforder Kreisanzeiger ,
24.03.2020 :
Wo klassische Musik zu politischem Widerstand wird
Ein neues Buch dokumentiert mit Fotos und Berichten von Zeitzeugen, wie die Initiative "Lebenslaute" in den vergangenen 33 Jahren aktiv gewesen ist / Der Protest begann mit der Stationierung von Atomraketen
Frank-Michael Kiel-Steinkamp
Herford. Noch im vergangenen Jahr hat der Herforder Gerd Büntzly Schlagzeilen gemacht. Er ließ sich einmal mehr öffentlichkeitswirksam für die Besetzung einer militärischen Anlage einige Tage ins Gefängnis stecken, indem er die verhängte Geldstrafe nicht bezahlte. Büntzly ist auch langjähriger Aktivist der Initiative "Lebenslaute", die seit 33 Jahren mit klassischer Musik an den Brennpunkten gegen "menschenfeindliche Politik" protestiert. Lebenslaute bekam im Jahr 2014 den Aachener Friedenspreis.
Im Raum Herford-Bielefeld ist die Unterstützung für Lebenslaute in Nachwirkung des legendären Friedenskottens Hiddenhausen besonders ausgeprägt. Nun ist Büntzly Mitherausgeber des neuen Buches "Widerständige Musik an unmöglichen Orten", die 35 größere Aktionen zivilen Ungehorsams aus der damaligen und heutigen Sicht von Zeitzeugen und mit vielen großformatigen Fotos dokumentiert. Eine beigefügte DVD aus Mitschnitten von Graswurzel.tv lässt auch die Musik lebendig werden. Die Herforder Aktivisten Winfrid Eisenberg, Barbara Rodi, Jörg Weimer und Berthold Keunecke sind Mitautoren. Eisenberg, Rodi und Pfarrer Keunecke waren von Anfang an dabei, als erstmals 1986 in Mutlangen gegen die Aufstellung der umstrittenen amerikanischen Pershing-Raketen protestiert wurde. "Wackersdorf, Gorleben, Flughafen Hamburg, Flughafen Leipzig, Innenministerium Berlin, Blockade der Waffenfabrik Heckler und Koch - es ist eine lange Widerstandsgeschichte mit Musik drin", resümiert Berthold Keunecke. "Seit 1986 hat sich fast jedes Jahr ein Anlass gefunden, musikalisch gegen Unrecht und Zerstörung zu protestieren - in manchen Jahren waren es auch zwei. Die großen Themen sind Atomkraft, Militarismus, Rassismus, Abschiebungen, Umgang mit Flüchtlingen, Gentechnik, Braunkohleverstromung und Giftmüll", sagt Keunecke.
In Mutlangen waren Musikerinnen und Musiker aus dem gesamten Bundesgebiet dabei. Den Bericht über diese erste Aktion schließt Frieder Dehlinger mit dem Gedanken: "Bei der Lebenslaute habe ich erfahren, dass wir wirksam und mächtig sind, wo wir uns zusammentun, uns zeigen mit unserer Lebendigkeit und Kreativität und uns öffentlich laut und klar einmischen. Es lohnt sich. Es ist schön. Es ist sinnvoll in sich. Es gibt Kraft. Es ist Leben."
"Über 30 Jahre Lebenslaute, irre, schon sooo lange her"
Es wird noch persönlicher in den Erzählungen. So schreibt Frieder Kapp in Erinnerung an eine Aktionswoche 1987 in Heilbronn und spätere gemeinsame Aktionen eine ganze Liebesgeschichte an eine Querflötistin auf: "Liebe Katja, über 30 Jahre Lebenslaute, irre, schon sooo lange her. Was war das damals für eine Zeit? D-Mark und Pfennige, zwei Deutschlands, Raketen gerichtet auf das "andere Deutschland", ein grünes Telefon mit Wählscheibe und als Luxus ein langes Kabel, das sich ständig verhedderte. Menschen, die beim Zugfahren aus dem Fenster statt auf das Smartphone schauen ... Mein Gott, was war ich verschossen in Dich (ganz pazifistisch). Während der Vorbereitungen auf die Konzert-Blockade in Mutlangen 1986 warst Du einfach da - faszinierend und schön. Zunächst nordisch unnahbar, in Politischem abgeklärt und erfahren, für mich Jüngelchen von der Schwäbischen Alb irgendwie seltsam fremd."
Frieder Kapp beleuchtet in seinem Brief auch das Heute: "Die Pershing II ist schon lange weg. Lebenslaute lebt, ist ausgezeichnet. Andere Bedrohungen beschäftigen uns: pöbelnde, angstzerfressene Kleingeister im eigenen Land, Hilflosigkeit angesichts widerlicher Terroranschläge, wildgewordene Politclowns, und gefährliche Nationalisten, Stacheldraht in Europa und Mauer-Projekte, die so bescheuert sind, dass man darüber lachen müsste, wenn sie nur eine Idee wären. Die Zeit damals war verwirrend, großartig, anstrengend, schön. Unser Engagement hoffentlich sinnvoll, die Begegnungen mit Dir unendlich kostbar. Wie sehr wünsche ich anderen und zukünftigen Mitgliedern von Lebenslaute vergleichbare Begegnungen." "Wir haben keine Sorge, zu überaltern", sagt Gerd Büntzly. "Erst im letzten Jahr haben wir im Bielefelder Loom musiziert, nachdem eine Textilfabrik in Bangladesch gebrannt hat", erinnert sich Barbara Rodi, die mit ihrer Geige auch hier dabei war.
Man muss die politische Einstellung der Autoren nicht teilen. Die Lektüre des Buches lohnt sich aber allemal als spannende, kurzweilige Dokumentation eines Stücks Zeitgeschichte mit Einblicken in viele Lebensgeschichten und Einsichten von Menschen, die damals jung waren oder heute noch jung sind.
"Widerständige Musik an unmöglichen Orten", Verlag Graswurzelrevolution, ISBN 978-3-939045-39-7, Auflage 1.000 Stück, 25 Euro.
Bildunterschrift: Wie andere Musiker übersteigt Barbara Rodi 2009 mit ihrem Instrument unbemerkt von der Polizei den Zaun um das Atommülllager Gorleben.
Bildunterschrift: Berthold Keunecke (v. l.), Barbara Rodi, Jörg Weimer und Mitherausgeber Gerd Büntzly präsentieren das Buch "Widerständige Musik an unmöglichen Orten" über 33 Jahre Lebenslaute.
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www.lebenslaute.net
www.graswurzel.net/gwr/produkt/widerstaendige-musik-an-unmoeglichen-orten/
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