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Westfalen-Blatt / Bielefelder Zeitung , 23.03.2020 :

100 Jahre "Bielefelder Abkommen"

Am 23. März 1920 begann im Alten Rathaus eine historische Konferenz

Bielefeld (MiS). Heute ist der Rochdale-Raum im Alten Rathaus ein modern gestalteter Konferenzsaal. Früher befand sich dort der Saal der Bielefelder Stadtverordnetenversammlung. Und in dem wurde genau vor 100 Jahren, am 23. März 1920, das "Bielefelder Abkommen" geschlossen, ein Ereignis, mit dem die Stadt Einzug in die Geschichtsbücher erhielt, wenngleich das Abkommen am Ende scheiterte.

Auf dem Höhepunkt des Ruhrkampfes, der im Zusammenhang mit dem Kapp-Putsch ausgebrochen war, beherrschte die so genannte Rote Ruhrarmee in der Frühphase der Weimarer Republik weite Teile des Ruhrgebiets. Das "Bielefelder Abkommen" sollte zur Befriedung beitragen und war eine Vereinbarung zwischen den Abgesandten der Roten Ruhrarmee und Vertretern der Reichsregierung. Eine zentrale Rolle bei den Verhandlungen spielte dabei der gebürtige Herforder und spätere Bielefelder SPD-Politiker Carl Severing. Er war damals Reichs- und preußischer Staatskommissar für das Ruhrgebiet, wählte Bielefeld als Konferenzort aus, weil es gewissermaßen auf neutralem Boden und doch nah genug am Ruhrgebiet lag. Sein Ziel war die Entwaffnung der Aufständischen. Der Haken am "Bielefelder Abkommen" war, dass die Reichswehr nicht in die Verhandlungen einbezogen worden war. Deren regionaler Vertreter verschärfte die Bestimmungen zur Entwaffnung so sehr, dass es zu einem Generalstreik im Ruhrgebiet kam, der Aufstand am Ende blutig niedergeschlagen wurde.

An die historische Konferenz soll künftig eine Tafel im Rochdale-Raum erinnern. Hartmut Meichsner, CDU-Fraktionsvorsitzender in der Bezirksvertretung Mitte, hatte einen entsprechenden Antrag gestellt, der bereits im Februar einstimmig von dem Gremium angenommen worden war.

Bildunterschrift: Blick in den Saal der Stadtverordnetenversammlung im Alten Rathaus. Heute ist dort der Rochdale-Raum.

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https://de.wikipedia.org/wiki/Bielefelder_Abkommen: Text des Abkommens:

Bielefeld, den 24. 3. 20, 6,3o Uhr, nachmittags

Die Vertreter aller beteiligten Parteien und Erwerbsgruppen erklären, daß sie ihre Forderungen zur Entwirrung der aus dem Kapp-Putsch entstandenen Lage mit der Verfassung und der Regierung auf Grund folgender Vereinbarung in Einklang bringen wollen.

1. Die anwesenden Vertreter der Regierungsparteien werden bei ihren Fraktionen dafür eintreten, daß bei der bevorstehenden Neubildung der Regierung im Reich und in Preußen die Personenfrage von den Parteien nach Verständigung mit den am Generalstreik beteiligten gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiter, Angestellten und Beamten gelöst und daß diesen Organisationen ein entscheidender Einfluß auf die Neuregelung der wirtschafts- und sozialpolitischen Gesetze eingeräumt wird unter Wahrung der Rechte der Volksvertretung.

2. Sofortige Entwaffnung und Bestrafung aller am Putsch oder am Sturz der verfassungsmäßigen Regierung Schuldigen, sowie der Beamten, die sich ungesetzlichen Regierungen zur Verfügung gestellt haben. Es wird Straffreiheit denen gewährt, die in der Abwehr des gegenrevolutionären Anschlages gegen Gesetze verstoßen haben, wenn die Verstöße und Vergehen vor Abschluß dieser Vereinbarungen, spätestens aber bis zum 25. März, vormittags, 8 Uhr, erfolgten. Auf gemeine Verbrechen gegen Personen und Eigentum findet diese Bestimmung keine Anwendung.

3. Gründliche Reinigung der gesamten öffentlichen Verwaltungen und Betriebsverwaltungen von gegenrevolutionären Persönlichkeiten, besonders solchen in leitenden Stellungen, und Ersatz durch zuverlässige Kräfte. Wiedereinstellung aller in öffentlichen Diensten aus politischen und gewerkschaftlichen Gründen gemaßregelten Organisationsvertreter.

4. Schnellste Durchführung der Verwaltungsreform auf demokratischer Grundlage unter Mitbestimmung auch der wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiter, Angestellten und Beamten.

5. Sofortiger Ausbau der bestehenden und Schaffung neuer Sozialgesetze, die den Arbeitern, Angestellten und Beamten volle soziale, wirtschaftliche Gleichberechtigung gewährleisten. Schleunige Einführung eines freiheitlichen Beamtenrechts.

6. Sofortige Inangriffnahme der Sozialisierung der dazu reifen Wirtschaftszweige unter Zugrundelegung der Beschlüsse der Sozialisierungskommission, zu der Vertreter der Berufsverbände hinzuzuziehen sind. Die Einberufung der Sozialisierungskommission erfolgt sofort. Übernahme des Kohlen- und Kalisyndikats durch das Reich.

7. Auflösung aller der Verfassung nicht treu gebliebenen konterrevolutionären militärischen Formationen und ihre Ersetzung durch Formationen aus dem Kreisen der zuverlässigen republikanischen Bevölkerung, insbesondere der organisierten Arbeiter, Angestellten und Beamten, ohne Zurücksetzung irgendeines Standes. Bei dieser Reorganisation bleiben erworbene Rechtsansprüche treugebliebener Truppen und Sicherheitswehren unangetastet. Unter die danach aufzulösenden Truppen fallen nach Ansicht der Kommission die Korps Lützow, Lichtschlag und Schulz.

8. Wirksame Erfassung, gegebenenfalls Enteignung der verfügbaren Lebensmittel und verstärkte Bekämpfung des Wucher- und Schiebertums in Stadt und Land. Sicherung der Erfüllung der Ablieferungsverpflichtung durch Gründung von Lieferungsverbänden und Verhängung fühlbarer Strafen bei böswilliger Verletzung der Verpflichtung.

9. Die verfassungsmäßigen Behörden walten ihres Amtes nach den gesetzlichen Vorschriften. Die jetzt bestehenden Vollzugs- und Aktionsausschüsse haben in Gemeinschaft mit der Gemeindebehörde die Ortswehr aufzustellen und die Waffenabgabe zu regeln. Dieses muß spätestens innerhalb von zehn Tagen geschehen. Danach tritt an die Stelle jener Ausschüsse ein aus der organisierten Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenschaft und den Mehrheitsparteien gebildeter Organisationsausschuß, der im Einvernehmen mit den zuständigen Gemeindeorganen bei der Durchführung der Sicherheitsdienstes mitwirkt.

10. Zur Unterstützung der ordentlichen Sicherheitsorgane wird, soweit erforderlich, eine Ortswehr in Stärke bis zu drei auf 1000 Einwohner aus den Kreisen der republikanischen Bevölkerung, insbesondere der organisierten Arbeiter, Angestellten und Beamten, gebildet. Für die Zeit, während welcher sie zum Dienst eingezogen sind, werden sie, soweit nicht der Staat die Kosten übernimmt, von der Gemeinde bezahlt. Durch die Bildung von Ortswehren sind die Einwohnerwehren aufgehoben.

11. Die sämtlichen Beteiligten verpflichten sich, ihren ganzen Einfluß dahin auszuüben, daß die Arbeiterschaft restlos zur gewohnten Arbeit sofort zurückkehrt. Die Arbeitgeber sind gehalten, die zurückkehrenden Arbeiter wieder einzustellen.

12. Es erfolgt sofortige Abgabe der Munition, sowie die Rückgabe requirierten und erbeuteten Heeresgerätes an die Gemeindebehörden.

13. Alle Gefangenen sind sofort, spätestens bis zum 27. März, mittags 12 Uhr, zu entlassen.

14. Bei loyaler Einhaltung dieser Vereinbarungen wird ein Einmarsch der Reichswehr in das rheinisch-westfälische Industriegebiet nicht erfolgen. Nach der Erklärung des Bevollmächtigten des Wehrkreiskommandos VI und des Reichskommissars wird das Wehrkreiskommando in politisch-militärischen Angelegenheiten nur auf schriftliche Anweisung des gesamten Reichsministeriums handeln. Ferner erklärt der Reichskommissar, daß er einen Vertrauensmann der Arbeiterschaft berufen werde, der bei allen militärisch-politischen Handlungen, über die der Reichskommissar mit zu befinden hat, gehört werden soll.

15. Der verschärfte Ausnahmezustand soll sofort aufgehoben werden, der allgemeine Ausnahmezustand dann, wenn die unter Ziffer 9 - 12 festgelegte Regelung erfolgt ist.

16. Der Herr Reichsminister Giesberts wird die Frage der Versorgung der Hinterbliebenen und Verletzten dem Reichskabinett vortragen mit dem Bestreben, daß die Kosten vom Reiche übernommen werden. Die Kommission spricht die Erwartung aus, daß das Reich die Kommunalverbände für alle ihnen aus den Unruhen erwachsenen Kosten und Schäden schadlos hält.

17. Weder den Arbeitern, die an den Kämpfen teilgenommen haben, noch den Mitgliedern der Polizei und Einwohnerwehren und den Mannschaften der Reichswehr dürfen Nachteile oder Belästigungen wegen ihrer Teilnahme erwachsen.

Giesberts, Reichspostminister; Severing; Thielemann, Heinrich Meyer; F. Klupsch, E. Sasse, Cuno, Stens, Imbusch, Kloft, Hamm, Dr. Jarres, Max Herbrig, Paul, Oettinghaus, O. Braß, W. Enz, Fritz Charpentier, O. Triebel, Mehlich, Protokollführer.

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Am 24. März 1920 wurde auf dem Höhepunkt des "Ruhrkampfes", in Verbindung mit dem Kapp-Putsch, in Bielefeld zwischen der "Rote Ruhrarmee" und Vertretern der Reichsregierung ein Abkommen geschlossen.

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