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Tageblatt für Enger und Spenge / Neue Westfälische , 29.04.2005 :

"Kann so etwas möglich sein?" / NW-Serie zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges: Maria Schierholz schrieb ein Tagebuch

Enger (uki). Das Kriegsende erlebten in Enger und Spenge überwiegend Frauen und Kinder. Maria Schierholz wohnte damals am Kirchplatz 8, wo ihr Mann Karl als Uhrmachermeister ein Geschäft betrieb. Im April 1945 war unklar, wo er sich aufhielt. Sein letzter Brief war im Februar aus Ungarn gekommen. Weil der Briefverkehr nicht mehr funktionierte, schrieb Maria Schierholz ein Tagebuch in Briefform an ihren Mann. Dieses Tagebuch stellte ihr Sohn Wilfried Schierholz der NW zur Verfügung.

Die Tagebuchnotizen beginnen am 1. April und verknüpfen eindrucksvoll die politischen Ereignisse mit dem subjektiven Erleben – Wochen zwischen Hoffen und Bangen. Sie werden hier gekürzt wiedergegeben.

"Tag und Nacht ziehen unendliche Kolonnen russ. u. franz. Gefangener durch die Stadt. Groß ist auch die Zahl der Flüchtlinge, die an unserem Fenster vorbeiziehen. Man mag oft nicht hinsehen. Sie können kaum noch weiter. Die Amerikaner sollen schon ganz in der Nähe sein bei Werther."

02.04. "Um 7 Uhr nachm. gab es Luftschutzalarm. Das war schaurig. 5 Minuten lang ging die Sirene, dann läuteten Glocken, das bedeutete, daß der Feind in der Nähe ist. Gleich nach 12 Uhr wurden alle männl. Personen von 16-60 aufgerufen. Sie müßten sich in der Schule sammeln."

"Die Schießerei wurde immer lauter"

03.04. "Die Schießerei wurde immer lauter. Gegen 10 1/2 Uhr kreiste immerzu ein Flugzeug über Enger ... morgens hatte ich erfahren, daß die Panzersperren geöffnet waren und eine weiße Fahne angebracht war ... Dann krachten Schüsse ... So ein Böllerschießen war es, als wenn sonst Schützenfest begann. ... sah ich vom Kellerfenster aus die ersten Autos langsam vorbei fahren ... überall hingen plötzlich weiße Tücher ... Es war doch ein sonderbares Gefühl. Stark bewaffnet waren alle Wagen der Amerikaner. Viele Neger sahen wir. ... Einmal hatten sie einen Zivilisten vorn auf ihrem Kühler. Es war ein Ortsgruppenleiter ... aus Jöllenbeck. Schwabedissen sollen sie auch geholt haben. Er wollte morgens am Amt die weiße Fahne wieder runterholen ... "

04.04. "Frauen dürfen von 11 - 12 einkaufen, Männer dürfen nicht raus."

06.04. "Es kommen Besatzungstruppen. Viele Häuser müssen innerhalb 2 Std. geräumt werden ... Im Zollamt ist die Kommandantur." (Ausgang verlängert)

09.04. "Wie lange soll der Krieg denn noch dauern? Müssen denn erst alle Soldaten in Gefangenschaft kommen oder fallen? Wo magst du sein und wann sehen wir uns wieder?"

12.04. "Alles grünt und blüht. Bald ist ganz Deutschland besetzt. Da wirst auch Du gewiß noch in Gefangenschaft kommen."

13.04. (Roosevelt gestorben)

16.04. "Viele Evakuierte von Bielefeld und Herford gehen schon wieder fort von Enger."

19.4. "Draußen steht alles in schönster Blüte ... wie im tiefsten Frieden."

20.04. "Nachts hatte ich wieder einen scheußlichen Traum. Wieder wollte man mir meinen Trauring abnehmen ... "

22.04. (Ausgehzeit bis 8 1/2 Uhr verlängert) "Die Russen sind schon in Berlin."

25.04. "Wenn du doch nur mal sehen könntest, daß es uns hier noch gut geht. Immer mehr bedrückt es einen, daß man nichts voneinander hört."

26.4. "Auf den Dörfern wird doch viel geräubert von den Polen. Man hört immer wieder von Soldaten, die sich bis hier durchgeschlagen haben, dann hofft man gleich wieder ... Man ist fast von der übrigen Welt abgeschnitten, es fährt keine Bahn, nicht einmal nach Herford oder Bielefeld, es kommt keine Zeitung. Im Rundfunk hört man kaum noch einen deutschen Sender. ... Herman Göring ist zurückgetreten. Die Amerikaner und Russen haben sich im Süden vereint und noch ist kein Schluß. Man kann es nicht fassen."

27.04. "Wann wird dieser furchtbare Druck wohl von einem genommen?"

30.04. "Furchtbare Nachrichten hört man von den Konzentrationslagern. ... Ja, die Hitlerregierung hat uns belogen ... Wie froh können wir sein, daß du nicht in der Partei bist, wenn wir bloß erst wüßten, wo du bist."

02.05. "Morgens brachte nun auch unser Sender, daß Hitler tot sei. Dönitz ist sein Nachfolger, der Krieg geht weiter. ... habe ich anläßlich deines Geburtstages einen Kuchen gebacken. Und du mußt vielleicht hungern! ... "

04.05. "Göbbels soll auch Selbstmord begangen haben."

05.05. " ... hörte ich vom Auslandsender, daß die ganzen deutschen Armeen im Norden kapituliert hätten ... "

07.05. Der 7. Mai brachte uns endlich den ersehnten Frieden ... (engl. Sender). Wieviel Schweres mag noch über uns kommen?"

09.05. " ... Krieg ganz zu Ende. Die Verdunkelung ist aufgehoben ... Von vielen Personen wird das Vermögen beschlagnahmt."

12.05. (erste Zeitung von Durchreisenden bekommen)

13.05. (Berichte aus Konzentrationslagern) "Die verfolgen einen oft die ganze Nacht. Kann denn so etwas möglich sein? ... Meine Unruhe wird von Tag zu Tag größer."

Mit dem Fahrrad dem Vater entgegen

Am 23. Mai berichtet ein früherer Kamerad, Karl Schierholz sei in russischer Gefangenschaft. Am 24. Mai meldet sich bei der Familie jemand, der Genaueres weiß. "Nicht schnell genug konnte ich hinkommen, Wilfried mir nach." Dort erfährt Maria Schierholz, dass ihr Mann nach dreimonatiger amerikanischer Gefangenenschaft in Regensburg bald entlassen werden soll: "Ach, ist das eine Freude! Wir sehen uns bald wieder. Ich bin überglücklich."

Ihr Sohn Wilfried, damals 14 Jahre alt, erinnert sich an die Rückkehr des Vaters: "Da bin ich ihm mit dem Fahrrad entgegengefahren und hatte noch ein zweites Rad an der Hand, damit er nicht den ganzen Weg von Herford zu Fuß gehen musste."


lok-red.enger@neue-westfaelische.de

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