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Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt , 10.03.2020 :

Das geheime Leben des Dr. Sommer

Bielefeld. Jeder kannte ihn: Dr. Sommer von der "Bravo". Nur wenige kennen den Mann hinter diesem Pseudonym. Und kaum einer weiß, dass Dr. Sommer Martin Goldstein aus dem Bielefelder Westen ist. Marion Meier hat eine Biografie über ihn geschrieben. Im Haus der Stille in Bethel liest sie am Dienstag, 17. März, aus ihrem Buch "Im Teuto versteckt und überlebt: Dr. Sommers Bielefelder Jahre als Martin Goldstein 1927 bis 1947".

In Bielefeld geboren und aufgewachsen hat er als Kind und Heranwachsender während des Nationalsozialismus kaum zu beschreibendes Leid und Gewalt erfahren. Zeitweise hat er sich im Teutoburger Wald verstecken müssen, um nicht deportiert zu werden.

Die Lesung beginnt um 19 Uhr im Kaminzimmer im Haus der Stille, Am Zionswald 5. Teilnahmebetrag: 12 Euro, eine Anmeldung ist nicht erforderlich.

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Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt, 21.08.2013:

Der Mann, der Dr. Sommer war

Seine Flucht vor den Nazis: Marion Meier legt ein Buch über den Bielefelder Martin Goldstein vor

Von Thomas Güntter

Bielefeld. Jeder in einem bestimmten Alter kannte ihn: Den Sexualaufklärer Dr. Jochen Sommer aus der "Bravo". Aber nur wenige kannten den Mann hinter dem Pseudonym: Martin Goldstein, der im Bielefelder Westen geboren wurde, dort aufwuchs und der sich vor den Nazis im Teutoburger Wald verstecken musste, denn Goldstein war nach der Terminologie der braunen Machthaber "Halbjude".

Jetzt hat die promovierte Philosophin Marion Meier (66) ein neues Buch über Goldstein vorgelegt. Titel: "Im Teuto versteckt und überlebt - Dr. Sommers Bielefelder Jahre als Martin Goldstein 1927 bis 1947".

Der Psychotherapeut, Autor und Sexualaufklärer Goldstein starb am 31. August 2012 im Alter von 85 Jahren in einem Düsseldorfer Hospiz. 15 Jahre lang beriet er in Deutschlands größter Jugendzeitschrift "Bravo" die junge Leserschaft in Fragen zu Liebe, Sex und Zärtlichkeit.

Seine Eltern waren Emma und Dr. Ernst Goldstein, Leiter des Chemischen Untersuchungsamtes in Bielefeld. Die Mutter war Protestantin, der Vater stammte aus einer jüdischen Familie.

Martin wurde 1927 geboren. 1933 ließen die Eltern ihn und seinen älteren Bruder Franz taufen. Zwei Jahre später ließ sich auch der Vater taufen. Pastor Karl Niemann traute die Eltern im gleichen Jahr in der Bielefelder Johanniskirche nahe des Siegfriedplatzes. Niemann bekam große Schwierigkeiten, die Trauung war ein Riesenthema mit mehren Hetzartikeln im nationalsozialistischen Kampfblatt "Der Stürmer" und in den gleichgeschalteten "Westfälischen Neuesten Nachrichten". Ebenfalls 1935 wurde Ernst Goldstein aus dem städtischen Dienst entlassen. Die Hetze gegen Juden kommentierte Martin Goldstein später so: "Es war die Klugheit meines Vaters, der "Mein Kampf" gelesen und sehr wohl verstanden hatte: Da kommt großes Unheil." Die Goldsteins lebten in einer so genannten "privilegierten Mischehe". Sie waren getauft. Martin, sein Bruder und sein Vater zum Beispiel mussten keinen Judenstern tragen. Die "Privilegierten" waren primär nicht für das KZ, sondern für die Zwangsarbeitslager vorgesehen. „Diese Privilegiertheit hat mir das Leben gerettet", wird er später sagen. Im September 1935 wurden die Nürnberger Rassegesetze erlassen.

Martin besuchte die Grundschule, die heutige Gutenbergschule, und dann die Oberrealschule, heute Helmholtz-Gymnasium. In der Schulzeit erlebt er keine Nachteile. Das ändert sich, als 1942 ein Gesetz in Kraft trat, dass Kinder und Jugendliche jüdischer Abstammung nicht mehr unterrichtet werden durften. Er musste die Schule verlassen und eine handwerkliche Ausbildung beginnen. Bei der Firma Festerling in der Turnerstraße erlernte er den Beruf des Orthopädiemechanikers.

Am 19. September 1944 wurde er in das Zwangsarbeitslager in Tröglitz bei Zeitz im heutigen Sachsen-Anhalt gebracht, aus dem seine Mutter ihn herausholen konnte, da sein Ausbildungsbetrieb ihn angefordert hatte, weil dort kriegswichtige Artikel hergestellt wurden: Prothesen.

Nachdem im Februar 1945 zunächst sein Vater in das KZ Theresienstadt deportiert wurde - er überlebte die Haft im Konzentrationslager -, erhielt auch Martin Goldstein im März 1945, zwei Monate vor Kriegsende einen Befehl, sich zur Deportation einzufinden. Er flüchtete daraufhin in den Teutoburger Wald.

Er kannte vom CVJM (damals Christlicher Verein Junger Männer), in dem er lange Mitglied war, jeden Weg, jeden Steg und jede Hütte. Egal, ob Sieben Hügel oder Ochsenheide. Ab und zu schlich er nachts ins so genannte Judenhaus an der Wertherstraße, Ecke Weststraße, und holte sich etwas zu essen und warme Kleidung, es war kalt.

Eines Tages hörte er wieder einmal die Bomber über der Stadt, die Bielefeld angriffen. Am nächsten Morgen lief er in die Dornberger Straße. In Nr. 2 war das Hauptquartier der Gestapo. Das Haus war weg. Volltreffer. Er dachte: "Meine Akte gibt es nicht mehr, dann gibt es auch mich nicht mehr. Ich bin frei!" Marion Meier hatte Goldstein im Jahr 2008 interviewt. Das Manuskript lag bei ihr lange Jahre im Regal. Erst jetzt, im Zusammenhang mit dem Prozess um die NSU-Morde nahm sie das Buch wieder in Angriff.

Die beiden Lesungen

Die erste Lesung ist am ersten Todestag von Martin Goldstein, am Samstag, 31. August, um 19 Uhr im Interkulturellen Bildungswerk Friedenshaus IBZ, Teutoburger Straße 106.

Die zweite Lesung ist am Mittwoch, 11. September, um 19.30 Uhr im Movement-Theater, Haller Weg 38 a in Gadderbaum. Der Eintritt beträgt jeweils fünf Euro.

Bildunterschrift: Dr. Sommer: Der Bielefelder Martin Goldstein war 15 Jahre lang in der Jugendzeitschrift "Bravo" der Aufklärer Doktor Jochen Sommer. Er beriet Jugendliche in Fragen von Sex, Liebe und Zärtlichkeit. Goldstein wurde als so genannter "Halbjude" von den Nazis in Bielefeld verfolgt, konnte sich aber im Teutoburger Wald verstecken und überlebte. Er starb im letzten Jahr im Alter von 85 Jahren in Düsseldorf.

Bildunterschrift: Dr. Marion Meier: Die gebürtige Bremerhavenerin und promovierte Philosophin legt mit dem Werk über Martin Goldstein ihr drittes Bielefelder Buch vor.

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