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Mindener Tageblatt , 09.03.2020 :

Minden / Ehepaar Schwier erinnert sich an das Kriegsende

Waltraud und Fritz Schwier aus Minden haben das Kriegsende vor 75 Jahren unterschiedlich erlebt. Gesprochen haben sie über ihre Erinnerungen lange nicht - bis jetzt.

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Mindener Tageblatt, 02.03.2020:

Das Ende, das ein Anfang war

MT-Serie: Wie erlebten Menschen die letzten Kriegstage? / Wie war es, in jener Zeit ein Kind zu sein? / Und wie ging es nach dem Frieden weiter? / Zeitzeugen erzählen

Monika Jäger, Kerstin Rickert, Julika Bergermann

Minden. Im Alter sitzen sie hier in der Tagesstätte Johanniskirchhof an einem Tisch. In ihrer Jugend haben sich die Lebenswege nicht gekreuzt: Einer war im Zweiten Weltkrieg Transportflieger, der andere Sohn eines Mannes, der als überzeugter Sozialdemokrat politischer Gefangener im KZ Bergen-Belsen war. Die beiden Männer mit ihren so verschiedenen Lebensgeschichten sind jetzt beide der Einladung des Mindener Tageblatts gefolgt, über ihre Kindheit und Jugend in und nach dem Krieg zu reden.

16 Seniorinnen und Senioren sind gekommen. Die meisten waren damals noch sehr junge Kinder: Wer heute 85 ist, war zehn, als der Frieden kam. Und doch sind viele Erinnerungen ähnlich. Oft geht es um Essen: bröckelndes Maisbrot, auf das ein Aufstrich aus Mehl und Salz kam, damit es nicht auseinanderbrach - "das mochte ich überhaupt nicht", sagt eine Teilnehmerin.

Viele erinnern sich an Kleider oder Sonntagsanzüge, die aus alten, löchrigen Decken geschneidert wurden, berichten von Touren aufs Land, um dort Besitztümer gegen Lebensmittel einzutauschen. "Wir sind über Land gegangen und haben gebettelt", erzählt einer, und von dem damals überwältigenden Gefühl: "Wenn es mal alles wieder gibt, kaufe ich mir eine ganze Leberwurst."

Aus Pappe und Knöpfen bastelten die Mädchen sich Spiele wie Mensch-ärgere-dich-nicht, und die Tochter des Tischlermeisters hatte einen selbstgemachten Kaufmannsladen. Der war ihr ganzer Stolz. Manche halfen mit ihrer Familie bei der Ernte. "Jede Familie bekam ein Brot pro Tag." Wer auf dem Land lebte, hatte mehr. Da wurde dann schon mal ein Schwein schwarz geschlachtet, und die, die damals Kinder waren, erinnern sich ans Schmiere stehen.

Es sind aber auch Lebensgeschichten mit fehlenden Vätern: In Russland vermisst und Jahre später für tot erklärt ("Meine Schwester kannte meinen Vater gar nicht mehr") oder - wie in einem anderen Fall - vom Roten Kreuz wieder gefunden. Und auch von fast fremden Männern, die irgendwann in der Tür standen ("Als er wieder da war, das ist noch mal eine ganz andere Geschichte").

Manche waren als Kinder mit ihren Müttern auf der Flucht, manche erlebten Vertreibung aus ihrem Heimatdorf: "Plötzlich keine Heimat mehr zu haben, das war für mich das Schlimmste." Andere mussten ihre Wohnungen in Minden räumen, als nach dem Krieg die Briten-"Einquartierung" kam, oder ihre Familien nahmen Frauen und Kinder auf, die aus dem schwer unter Bombardierungen leidenden Ruhrgebiet evakuiert worden waren.

Die ersten Tage nach dem Krieg? Viele berichten da von dieser einen, fast ikonischen Situation: Von dem Soldaten, der mit den Alliierten kam, der tiefschwarze Haut hatte ("das hatten wir noch nie gesehen") und den Kindern etwas gab, das sie bestenfalls aus Erzählungen kannten: ein Stück Schokolade.

Viele haben kleine Bücher oder Geschichten geschrieben. Nur wenige sprechen mit ihren Familien darüber. "Meine Enkel interessieren sich nicht dafür."

Das Mindener Tageblatt wird einige dieser Geschichten in den kommenden Monaten erzählen, in der Serie "75 Jahre Kriegsende".

75 Jahre Kriegsende

Zur Zeit ist das Interesse an den persönlichen Geschichten der Männer und Frauen, die das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebt haben, besonders groß. Denn im Mai jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 75. Mal. Das MT berichtet in den kommenden Monaten darüber.

Wer selbst als Zeitzeuge von seinen Erinnerungen erzählen möchte: Kontakt (0571) 88273 oder lokales@mt.de.

Bildunterschrift: Nach dem Ende des Krieges: Spuren der Bombennächte in der Mindener Innenstadt.

Geteilte Erfahrungen

Monika Jäger, (Jahrgang 1960)

Vieles beeindruckt mich an meinem Tisch tief. Die deutliche Bereitschaft aller - die einander ja auch fremd sind - miteinander über ihre Erlebnisse zu reden und anderen zuzuhören. Das Verstehen, dass hier jeder seine eigene Geschichte hat, die ihn oder sie definiert, und dass doch manches geteilte Erfahrungen sind.

Die tiefe Emotionalität, die den Erinnerungen innewohnte. Da ist die Frau, die mir ihre auf vier Seiten niedergetippte Geschichte gibt, eine Geschichte, die ich nicht vorlesen soll, die nur für mich ist, damit ich alles besser verstehen kann. Oder die alte Dame, die in lebhaften Bildern, mit leiser Stimme beherrscht erzählt, wie sie und ihre Mutter sich vor marodierenden Vergewaltigern nachts in Gräben und Feldern versteckt haben. Von den letzten Kriegstagen in Stollen und Kellern und Bunkern. Vom Nicht-Wissen, was werden würde, von Unsicherheiten.

Und dann ist da auch das Sich-Erinnern-Wollen. Für alle, die dabei sind, ist ihre persönliche Vergangenheit auch Teil der Geschichte, und sie wissen und akzeptieren das.

Die schönsten Momente sind für mich, wenn einer zum anderen sagt: "Naja Sie, auf dem Land, da war das ganz anders als für uns in der Stadt." Und wenn die beiden dann vergleichen, wie es war, damals, in den letzten Kriegstagen und den ersten Wochen, als die Waffen schwiegen. Und verstanden, dass das so einfach dann doch nicht ist, wie sie damals gedacht hatten.

Und - es ist auch schwierig, zuzuhören. Denn viele erzählen von Dingen, die sie gesehen hatten, von der Verfolgung anderer Menschen, von einem Kriegsgefangenen, der geprügelt wurde, von Dorfjugendlichen, die fast einen feindlichen Piloten erschlagen hätten. Erinnerungen an Erlebnisse, als sie Kinder waren. Nicht einmal sechs Jahre alt.

Bildunterschrift: Sehr unterschiedliche Lebensgeschichten brachten die Gesprächsteilnehmer mit.

Vorstellung vs. Realität

Julika Bergermann, (Jahrgang 1991)

Aufzuwachsen im Krieg - das ist etwas, das ich mir nicht so richtig vorstellen kann. Wenn ich es doch einmal versuche, dann denke ich an Entbehrungen, Angst und Gewalt - statt an Spiele, Spaß und Sicherheit. An Kindheiten, die nicht stattfinden. Oder die trostlos sind und das weitere Leben als Alptraum begleiten.

Umso mehr überrascht mich die Leichtigkeit, die mitunter in den Kindheitserinnerungen meiner fünf Gesprächspartnerinnen mitschwingt.

"Wir haben draußen auf der Straße gespielt", erzählen die Frauen, die den Krieg an ganz unterschiedlichen Orten erlebten. Hinkepott, Seilspringen, Völkerball, Murmeln - das klingt nach einer ganz normalen Kindheit. Fast. "Bei Ruhe wurde gespielt", berichten sie weiter, "aber so wie die Hunde begannen zu jaulen, ging es wieder in den Keller". Ein Stück Normalität im Ausnahmezustand.

Manchmal, da wurde das Elend des Alltags selbst zum Spiel. Dann wurden schon mal Krieg oder Kohleklau nachgestellt.

Besonders beeindruckt mich das Erlebnis einer älteren Dame in einer schlimmen Bombennacht. Sie erzählt, wie sie weinte, weil ihre Mutter nicht mit hinunter in den Keller kam. Als sie dann später wieder nach oben konnte, da sah sie ihre Mutter im Flur auf dem Boden liegen. Lebendig, an ihrer Seite ein zitternder Arzt, auf ihrem Bauch ein neugeborenes Kind - ihre jüngere Schwester. Das Leben ging eben auch im Krieg weiter - so wenig sich meine Generation das heutzutage noch vorzustellen vermag.

Zwei Damen am Tisch sind auch oder vor allem deshalb gekommen, um die Erinnerungen anderer wachzuhalten. Die der Eltern, Schwiegereltern oder des Ehemannes. Die der Menschen, die ihre Geschichte nicht mehr selbst erzählen können. Damit die Realität auch nach all den Jahren nicht in Vergessenheit gerät.

Bildunterschrift: Sie spielten Hinkepott und Völkerball auf der Straße - immer dann, wenn keine Bomben fielen.

Gemischte Gefühle
Kerstin Rickert, (Jahrgang 1963)

Wenn ich etwas aus den Gesprächen mitnehme, dann ist es die Gewissheit, dass ich die Erlebnisse meiner Gesprächspartner niemals werde wirklich nachvollziehen können. Ich habe - zum Glück - keine persönlichen Kriegserlebnisse. Ich weiß nicht, wie es ist, im Krieg aufzuwachsen. Wie normal der Zustand für die Kinder war, die in ihrem jungen Leben nichts Anderes kannten. "Das war Abenteuer. Wir haben mit Kriegsspielzeug gespielt, mit allem, was rumlag", erzählt ein 80-jähriger Mann, der in dem Jahr geboren wurde, als der Krieg ausbrach. Die anderen nicken. Sie spielten mit allem, was sie in den Trümmern fanden. Waffen und Munition gehörten auch dazu. Sie wuchsen ohne Väter auf, verbrachten viele Nächte im Luftschutzkeller, spürten die Angst der Erwachsenen. Der Krieg war ihr Alltag. Er bestimmte ihre Kindheit und prägte sie. Wie sie das Kriegsende erlebt haben, will ich von den Menschen an meinem Tisch wissen. Wie haben sie es überhaupt gemerkt, und was ging ihnen in dem Moment durch den Kopf? "Das Gefühl, es geht keine Sirene mehr, war eine Erlösung", sagt eine 88-jährige Frau. Bis heute wecken Sirenen unangenehme Erinnerungen in ihr. "Der Sirenenton sitzt, er ist tief im Innern hängen geblieben." Aber das Fehlen der Alarmsignale löste nicht nur Freude aus. "Es fühlte sich an wie eine Befreiung, aber es machte sich auch große Besorgnis breit. Was passiert jetzt mit uns? Wir waren ja umgeben von Feinden", schildert die Frau die Ängste, die alle an meinem Tisch erlebt haben - außer mir. Ich kann nur erahnen, was sie fühlten und wie sehr sich die Geräusche, Gerüche und der Geschmack von damals in ihr Gedächtnis eingebrannt haben. Wie sehr sie auch nach dem Krieg noch ums Überleben kämpfen mussten. Ich bewundere diese Menschen zutiefst.

Bildunterschrift: In den Gesprächen wurde deutlich, dass das Kriegsende Erleichterung brachte, aber auch Angst vor der Zukunft.

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Mindener Tageblatt, 02.03.2020:

"Plötzlich keine Heimat mehr zu haben, das war für mich das Schlimmste"

Zeitzeugen erinnern sich für eine neue MT-Serie zum Thema "75 Jahre Kriegsende".

Seite 3

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