Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt ,
07.03.2020 :
Der Fotograf des "Untergangs"
Carl Schröder dokumentierte den Luftangriff am 30. September 1944 / Er konnte die seltenen Farbfilme nutzen, die ihm das Städtische Museum zur Verfügung stellte / Heute sind diese Bilder ein historischer Schatz
Joachim Wibbing
Bielefeld. Als am 30. September 1944 Bielefeld von amerikanischen Flugzeugen bombardiert wurde, entstand ein Farb-Foto von der brennenden Stadt. Es war bislang nicht bekannt, von welchem Standort aus und mit welcher Blickrichtung das Foto „geschossen“ wurde. Nun hat sich der Enkel des Fotografen Carl Schröder (1880–1960) gemeldet und die Geschichte des Fotos erzählt.
Der Augenzeuge
"Ich stand als Sechsjähriger mit meinem Großvater am 30. September 1944 auf dem Balkon im zweiten Stock des Hauses an der Gabelsberger Straße" - so erinnert sich Ingo Riedel. Er war damals auf Besuch bei seinem Opa in der Stadt. "Viele Menschen waren damals eher phlegmatisch, was Voralarme und den Gang in den Luftschutzkeller anging. Deshalb beobachteten wir die anfliegenden amerikanischen Bomber. Sie kamen vom Viadukt und bombardierten zunächst die Stadtwerke." So berichtet der heute 81 Jahre alte Augenzeuge von den damaligen Ereignissen.
Zerstörung des E-Werks
Die gut 300 amerikanischen Bomber vom Typ B-24 "Liberator", "Befreier", und B-17 "Flying Fortress", "Fliegende Festung" hatten sich von ihren britischen Stützpunkten auf den Weg gemacht. Von einer Reiseflughöhe von 6.700 bis 7.600 Metern bei gut 300 Stundenkilometern Geschwindigkeit mussten sie auf ungefähr 2.500 bis 3.500 Meter Höhe heruntergehen.
Sie warfen - zur Täuschung der deutschen Luftaufklärung und -ortung - das so genannte "Lametta", unzählige Stanniolstreifen, ab.
Den Viadukt hatten sie aber nicht mit Bomben belegt. Diese wurden für die eigentliche Stadt benötigt. Die Eisenbahngleise waren die idealen Wegweiser. Orientierten sich die Flieger an ihnen, so kamen sie unweigerlich zur Stadt und den Stadtwerken. Bei denen waren die markanten zwei Schornsteine - die im Volksmund "Max und Moritz" genannt wurden - unübersehbar.
Das im Jahre 1900 erbaute Gleichstromwerk an der Schildescher Straße - an der Stelle, wo sich heute das Kundenzentrum befindet - wurde bis in die Grundmauern zerstört. Vier Beschäftigte fanden dabei den Tod.
Ingo Riedel berichtet weiter: "Als sich bei den Stadtwerken eine riesige Explosion ereignet hatte, hielt es mein Großvater für angebracht, nun auch den häuslichen Luftschutzkeller aufzusuchen. Er packte mich und brachte uns in aller Windeseile und Hektik in Sicherheit. Im Garten ging nur eine Stabbrandbombe nieder, die aber keine weiteren Schäden verursachte."
Der Fotograf
"Gegen 15 Uhr an diesem Samstag vor dem Erntedank-Sonntag verließen wir den Luftschutzkeller. Nebenbei bemerkt: die damalige Tür ist noch vorhanden." Großvater und Enkel betraten für eine kurzen Augenblick wieder den Balkon - es bot sich ihnen ein Blick ins Inferno - die Stadt brannte lichterloh und überall stiegen Rauchwolken auf.
"Mein Großvater nahm schnell seine Kamera und machte drei Fotos, bevor er in die Nachbarschaft zum Feuerlöschen eilte" - so hat es Ingo Riedel noch in plastischer Erinnerung. Eigentlich waren Fotografien von zerstörten Städten strikt untersagt. So etwas passte nicht in die Vorstellungen vom "siegreichen Dritten Reich".
Ein katholischer Kaplan hatte ebenfalls an diesem Tag Fotos von Bielefeld gemacht. Er bekam gravierende Probleme, die erst mit dem Eingreifen seines Bruders, einem höheren Wehrmachts-Offizier, gemildert werden konnten. Am folgenden Tag, dem 1. Oktober, beabsichtigten Ingo Riedel und seine Mutter, zurück nach Lage zu fahren. Am Montag fand dort normaler Schulunterricht statt.
Wegen der Zerstörungen gab es aber erst ab Oerlinghausen eine Zugverbindung. Bis dorthin mussten beide zu Fuß gehen. In Lage angekommen entdeckte die Mutter im Garten Reste von Schriftstücken, die offensichtlich von den Anker-Werken stammten. Sie waren durch die Hitze bei dem Luftangriff derart in die Höhe gewirbelt worden, dass sie fast 20 Kilometer weit flogen.
Carl Schröder hatte bis 1934 ein Schreib- und Tabakwarengeschäft an der Kreuzstraße betrieben. Er fotografierte Szenen aus der Stadt und publizierte die Motive als Postkarten. Sein Enkel erinnert sich an diverse Fototouren mit seinem Großvater, und dass der Lübecker Schöning-Verlag oftmals den Druck besorgte.
Er musste dann seinem Großvater beim Auspacken helfen. Farbiges Filmmaterial war damals selten und kostspielig. Erst 1936 wurde es produziert und kam auf den Markt. Der damalige Leiter des Städtischen Museums, Eduard Schoneweg, versorgte Carl Schröder mit dem kostbaren "Filmrohstoff".
Dazu bemerkte er durch die Blume: "Herr Schröder, fotografieren Sie die alte Stadt Bielefeld, solange sie noch steht".
Nicht nur die Altstadt
Betrachtet man die spätere Berichterstattung über die Bombardierung Bielefelds mit ihren 649 getöteten Einwohnern, so könnte der Eindruck entstehen, dass ausschließlich die Altstadt zerstört wurde. Insbesondere später entstandene Fotografien und auch eine entsprechende Karte aus der Broschüre von 1952 mit dem Titel "Ist nichts geschehen?" bestärken diese Ansicht.
Doch in dem "Damage Combat Report" des amerikanischen Fliegerkommandos wurde besonders hervorgehoben, dass Industriebetriebe und Infrastruktur zerstört wurden. Man kann feststellen, dass die Bombardierungen sich zwischen dem städtischen Krankenhaus und dem Siegfriedplatz ereigneten. Auch die Region um den Hauptbahnhof mit den Stadtwerken und anderen wichtigen Industriebetrieben galt als Angriffsziel.
Insofern erweitert das epochale Foto von Carl Schröder hier den historischen Erfahrungshorizont. Es ist genau zu erkennen, dass die Rauchwolken auch am städtischen Krankenhaus aufsteigen.
Die Fläche der Bombardierung war also wesentlich ausgedehnter als bisher angenommen. Das sechste Kriegsjahr, das Bielefeld den Untergang brachte, war das Jahr mit den größten Bombenabwürfen. Nach dem Kriegstagebuch des "OKW", des Oberkommandos der Wehrmacht, fielen 1.188.580 Tonnen auf Deutschland. Im Jahr zuvor war es nur gut ein Fünftel dieser Bombenlast.
Bildunterschrift: Bielefeld brennt - dieses Foto ist eines von vielen, die Carl Schröder 1944 in Farbe (!) aufnahm.
Bildunterschrift: Ingo Riedel hat noch heute die riesige Explosion bei den Stadtwerken beim Luftangriffes am Samstag vor dem Erntedanksonntag 1944 in Erinnerung.
Bildunterschrift: Riedel steht auf dem Balkon, von dem aus Schröder 1944 fotografierte.
Bildunterschrift: Der Fotograf Carl Schröder in seinem heimischen Wohnzimmer. Er hielt das brennende Bielefeld auf Farbfilmen fest. Heute sind diese Bilder historische Besonderheiten.
_______________________________________________
Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt, 06.02.2014 :
800 Fakten über Bielefeld / 66
Am 30. September 1944 stirbt Richard Kaselowsky, der langjährige Chef der Firma Oetker, bei einem Bombenangriff auf Bielefeld im Keller seiner Villa auf dem Johannisberg. Mit ihm sterben seine Frau Ida Kaselowsky, die er, als der Firmenerbe Rudolf Oetker 1916 im Ersten Weltkrieg gefallen war, 1919 geheiratet hatte, und die gemeinsamen Töchter Ilse (24) und Ingeborg (17). Nur der 23-jährige Sohn Richard Kaselowsky, der nicht im Keller Zuflucht gesucht hatte, entging diesem Schicksal. Stiefsohn Rudolf-August Oetker, der später langjährige Firmenchef, war zufällig nicht in Bielefeld und überlebte. Auch Lina Oetker, Rudolf-Augusts Großmutter, überstand den Bombenangriff lebend in ihrer benachbarten Villa.
_______________________________________________
www.stadtarchiv-bielefeld.de
07./08.03.2020
|