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Mindener Tageblatt , 07.03.2020 :

Freiwillige vor

Die Alte Synagoge ist seit einem Jahr nur noch an Sonntagen geöffnet / Das hat bereits Auswirkungen / Nun suchen die Ehrenamtlichen Unterstützung

Claudia Hyna

Petershagen. Die Bundesfreiwilligenstelle bei der Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge in Petershagen ist seit mehr als einem Jahr unbesetzt. Die Folge: Das Gebäude ist an Wochentagen nicht mehr geöffnet, sondern nur noch sonntags. Das zeigt sich bereits an sinkenden Besucherzahlen. "Wir brauchen dringend Ersatz", sagt zweiter Vorsitzender Wolfgang Battermann.

Doch woher nehmen? Die Stelle sei bei der Stadt ausgeschrieben, darüber hinaus haben Wolfgang Battermann und erste Vorsitzende Marianne Schmitz-Neuland sich überall umgehört. Bisher ohne Erfolg. Der Bufdi könne gerne ein Rentner oder Arbeitsloser sein, denn der Dienst beinhalte keinen Acht-Stunden-Tag. Battermann bedauert die Regelung, dass die Freiwilligen maximal ein Jahr bleiben können - schließlich hätten sie sich dann gerade in die Thematik eingearbeitet. In den vergangenen zehn Jahren war der Bufdi zu den Öffnungszeiten von Dienstag bis Samstag von 11 bis 15 Uhr anwesend. Seit Anfang 2019 ist das Ensemble an der Goebenstraße nur noch sonntags von 16 bis 18 Uhr geöffnet.

Die AG hat rund 70 Mitglieder, sie kommen aus ganz Deutschland. Aufsicht leisten aktuell 14 Personen. Auch das sah mal besser aus. Doch die Arbeitsgemeinschaft hat die gleichen Probleme wie die meisten anderen Vereine auch: Einige haben aus Altersgründen aufgehört oder sind verstorben. Der Großteil von ihnen ist Ü60 - und sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie vertrauensvoll und verlässlich sind, wie Battermann betont. Von Anfang an dabei ist Marianne Schmitz-Neuland, heute 72. Die Aufsicht können auch gerne Nicht-Mitglieder übernehmen.

"Jüdische Geschichte ist ein sensibles Thema. Viele haben Respekt davor", weiß Wolfgang Battermann um die Bedenken. Auch könne man in der Synagoge ja schlecht Kaffee und Kuchen anbieten wie in anderen Museen. 2019 besuchten 2.531 Menschen die Einrichtung an der Goebenstraße. Im Jahr davor waren es 2.634 gewesen, 2016 sogar noch 3.128.

Im Schnitt übernehmen die Ehrenamtler jährlich rund 50 Führungen

Das Interesse ist dennoch verhältnismäßig groß - sogar größer denn je. Denn in den Jahren 2006 bis 2015 bewegten sich die Besucherzahlen bei 1.500 bis 1.700. Und die große Nachfrage nach geschichtlichen Themen - unter anderem rund um den Nationalsozialismus und seine Folgen - werde deutlich, wenn der Verein Lesungen und Vorträge anbietet. Beim Zeitzeugen-Gespräch mit der Holocaust-Überlebenden Erna de Vries mussten kürzlich etwa zahlreiche Besucher abgewiesen werden.

Führungen durch die Synagoge werden jederzeit angeboten, ein Anruf bei den Ehrenamtlichen genügt. Im jährlichen Schnitt beläuft sich die Zahl auf 50, momentan übernehmen drei Personen die Führungen. Auch hier gilt: Gerne können es mehr sein. Im vergangenen Jahr gab es lediglich 35 Führungen. Woran es liegt? Die erste Vorsitzende hörte, dass Reiseunternehmen ihre Busse vielerorts nicht voll kriegen. Auch das hänge offenbar mit dem demografischen Wandel zusammen. Die meisten Busse kommen aus Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Großes Interesse bestehe bei Musik-Gruppen, die in der nahen Jugendherberge übernachten. Auch die Frauenhilfe ist häufig zu Gast, dazu gesellen sich Teilnehmer von Klassentreffen.

"Ich wünsche mir, dass mehr Schulklassen aus der Umgebung zu uns kommen", sagt Schmitz-Neuland. Schließlich hätten diese einen kurzen Weg. Dank der seit zwei Jahren bestehenden Kooperation mit dem Gymnasium besuchen zweimal im Jahr die neunten Klassen die Synagoge, zwecks Recherche und Präsentation.

Die Ehrenamtlichen opfern nicht nur ihre Zeit - wobei, von Opfer reden sie überhaupt nicht. Marianne Schmitz-Neuland macht die Arbeit nach 20 Jahren immer noch viel Spaß - sogar, wenn mal kein Besucher kommt. Dann lese sie etwas zum Thema, schließlich gebe es ständig neue Veröffentlichungen.

Die Geschichte der Juden in Petershagen nahezubringen, und zwar von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis heute, das ist ihr Antrieb für die ehrenamtliche Tätigkeit. So erfahren die Interessierten, dass der letzte Gottesdienst hier 1936 stattfand. Und dass im Synagogenbezirk Petershagen einst 198 Juden lebten. Bis 1933 schrumpfte ihre Zahl auf 43. Sie vermittelt Wissen, aber lerne ständig dazu, denn die Gäste berichten ihr von ihren Erfahrungen. Warum sich an manchen Tagen kein Besucher in die Synagoge verirrt, dafür hat sie keine Erklärung. Am zu guten oder zu schlechten Wetter liege es nicht, meint sie herausgefunden zu haben.

Viele Besucher sind erstaunt, was sie hinter den Fassaden in der Altstadt Petershagens vorfinden. Und durchaus gegen Widerstände zu dem wurde, was es heute ist: Dieses für Norddeutschland einzigartige Ensemble - mit Synagoge, Schule, Mikwe (jüdisches Tauchbad) sowie Informations- und Dokumentationszentrum - hatten sie hier nicht erwartet, hört Wolfgang Battermann immer wieder. Für ihn ist das Thema und alles, was damit zusammenhängt, eine Lebensaufgabe. Sie hat ihn seit seiner Kindheit, im Studium, bei seiner Tätigkeit als Lehrer bis in den Ruhestand begleitet. Erinnern, Wachhalten, Gedenken, Handeln, das sei seine Motivation. Aktuelle Geschehnisse bestätigen ihn in seinen Zielen.

Als Kind habe er, Jahrgang 1946, sich bei seiner Oma erkundigt, warum ein Geschäft in der Mindener Bäckerstraße plötzlich schloss. "Das musst du fragen, wenn du erwachsen bist", hörte er als Antwort. Danach sucht er bis heute.

Kontakt

Wer mitarbeiten möchte, sei es als Bufdi, Führung oder Aufsicht, oder an einer Führung teilnehmen möchte, wendet sich an info@synagoge-petershagen.de, Telefon (05707) 1378 oder 2389.

Die Autorin ist erreichbar unter Telefon (0571) 882262 oder Claudia.Hyna@MT.de.

Bildunterschrift: Die ersten und zweiten Vorsitzenden, Marianne Schmitz-Neuland und Wolfgang Battermann, engagieren sich seit vielen Jahren in der Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge.


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In 2019 besichtigten 2.531 Besuchende das Informations- und Dokumentationszentrum für jüdische Orts- und Regionalgeschichte - welches von der "Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge Petershagen" betreut wird.

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07./08.03.2020

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