Mindener Tageblatt ,
06.03.2020 :
Post vom Reichsbürger
Ein polizeibekannter Pr. Oldendorfer schreibt alle Kindergärten und Schulen in der Gemeinde Hille an / Sein Brief steckt voller Desinformation / Nun ermittelt der Staatsschutz
Karsten Schulz und Stefanie Dullweber
Hille / Lübbecke. Große Verunsicherung herrscht aktuell in vielen Kindergärten, Grundschulen und weiterführenden Schulen in der Gemeinde Hille. Sie alle erhielten kürzlich ungewöhnliche Post. Ein der Polizei und dem Staatsschutz bestens bekannter Reichsbürger aus Pr. Oldendorf hatte sich mit dem neuen Masernschutzgesetz befasst. In dem Brief, der dem Mindener Tageblatt vorliegt, schreibt der Verfasser, dass der Staat nicht das Recht habe, ein solches Gesetz zu erlassen. Die Adressaten des Schreibens - also die Leiterinnen und Leiter der Kitas und Schulen - müssten für die Folgen der Impfungen geradestehen, behauptet der Verfasser.
Seit 1. März müssen laut Gesetz alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr beim Eintritt in die Schule oder den Kindergarten Masern-Impfungen vorweisen. Die meisten Einrichtungen hatten sich nach Erhalt des Briefes zunächst an ihre jeweiligen Träger gewandt und auch mit den übrigen Leitungen Kontakt aufgenommen. Ein mit dem Siegel "Amt Harlinghausen" versehenes Schreiben verbunden mit einem "Impffrei-Flyer" landete in den Briefkästen der betroffenen Einrichtungen, den meisten wurde es als Einschreiben zugestellt. Nicht nur in der Gemeinde Hille, sondern auch im Altkreis Lübbecke sind mittlerweile etliche Fälle bekannt - aus dem Mindener Raum hingegen noch nicht. Die Einrichtungsleitungen kamen überein, das Schreiben samt Flyer an die Kreispolizeibehörde Minden-Lübbecke zu schicken.
Als "völligen Blödsinn" bezeichnete Ulrich Schlomann, Verwaltungsleiter im Kirchenkreis Minden, im MT-Gespräch dieses Schreiben. Schlomann sammelt derzeit die Briefe der kirchlichen Einrichtungen wie beispielsweise der Kindergärten Hille, Südhemmern, Hartum, Oberlübbe und Rothenuffeln. Etwas Vergleichbares sei ihm bisher nicht untergekommen. Allerdings sorgten die Formulierungen für Verunsicherung. Dass die Impfpflicht grundsätzlich über den Gesetzgeber geregelt sei, darüber habe man alle Einrichtungen aus gegebenem Anlass noch einmal informiert.
"Ich war entsetzt über die Form des Schreibens und auch darüber, dass mein Name darauf stand", sagt Elke Borcherding, Leiterin des AWO-Familienzentrums "Abenteuerland" in Espelkamp, auf Nachfrage. Die Sprache sei "sehr seltsam", dennoch habe es auf den ersten Blick "stark amtlichen Charakter", sodass man zunächst "darauf hereinfallen könnte". Sie habe das Schreiben gleich wieder eingesteckt und zur Polizei geschickt. Sie und ihre Kolleginnen der anderen Kitas hielten sich an Recht und Gesetz. "Alle Kinder müssen jetzt eine Impfung nachweisen. Wir machen da einfach unsere Arbeit", so Borcherding weiter.
Malin Adler vom Kindergarten Hartum waren insbesondere die vielen Rechtschreibfehler und das ungewöhnliche Vokabular aufgefallen. In einem ersten Impuls wäre das Schreiben beinahe im Papierkorb gelandet. Allerdings finde sie es wichtig, dass der Sache nachgegangen werde - deshalb habe sie den Brief an den Träger weitergegeben. Dirk Schubert, Leiter der Verbundschule Hille, erklärte, dass er dieses Schreiben als Belästigung und Anmaßung empfinde. Er hoffe, dass der Sache rechtlich nachgegangen werde.
Polizei-Pressesprecher Ralf Steinmeyer bestätigte den Eingang mehrerer Scheiben mit "Impffrei-Flyer" an Kindertageseinrichtungen. "Das war der einzige richtige Weg, den die Kindergärten und Familienzentren hier gegangen sind", sagt Steinmeyer. Sie hätten alles richtig gemacht, darauf aufmerksam zu machen und sich untereinander auszutauschen. Als sie das Schreiben in die Hände bekamen, sei ihnen sofort klar gewesen, dass dies "klare Züge der Reichsbürger trägt". "Es werden zielgenau bestimmte Menschen angesprochen oder angeschrieben, um diese in einer bestimmten Situation zu verunsichern", so Steinmeyer.
Alles, was man bekommen habe, sei nunmehr unterwegs nach Bielefeld. Staatsschutz und anschließend Staatsanwaltschaft werden die Schreiben einschließlich des Flyers daraufhin untersuchen, ob hier eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung begangen worden sei. Erst wenn dies positiv beantwortet worden sei, könne man Strafanzeige erstatten. Steinmeyer bestätigte, dass sich im Inhalt des Anschreibens und des beigelegten Flyers Formulierungen finden, die "in der Reichsbürger-Szene üblich sind". So wird das "Amt Harlinghausen" als "Hoheitsgebiet" entsprechend der UN-Charta Kapitel 73-792 bezeichnet.
Außerdem sei von der "Firma Bundesrepublik Deutschland" und der "Firma Bundesgesundheitsministerium" die Rede. Üblich sei auch, den Betroffenen Rechtsunsicherheit zu vermitteln oder ein schlechtes Gewissen einzureden. Steinmeyer verwies in diesem Zusammenhang auf den Satz: "Sie haben hiermit für die Folgen der Impfungen geradezustehen".
Reichsbürger
Reichsbürger sind Einzelpersonen oder Gruppierungen, die aus unterschiedlichen Motiven - unter anderem unter Berufung auf das historische Deutsche Reich, Verschwörungstheorien oder ein selbst definiertes Naturrecht - die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen. Sie sprechen den demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation ab oder definieren sich in Gänze als außerhalb der Rechtsordnung stehend.
Bildunterschrift: Zum Masernschutzgesetz hat ein Reichsbürger Kitas und Schulen angeschrieben.
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Mindener Tageblatt, 14.01.2020:
Keine Entwarnung
Die Polizei schreitet gegen Reichsbürger ein / Doch immer noch gibt es ein besonderes Problem
Frank Hartmann und Stefan Koch
Minden / Lübbecke. Mit einer Kleinen Anfrage hatte sich die Mindener SPD-Landtagsabgeordnete Christina Weng über die Zahl der den Ermittlungsbehörden bekannten Reichsbürger und Selbstverwalter im Kreis Minden-Lübbecke im vergangenen Jahr informiert. Demnach waren von den NRW-weit etwa 3.200 Anhängern dieser Bewegungen 81 im Mühlenkreis ansässig - mit 20 die meisten in Porta Westfalica sowie in Minden (18) und Bad Oeynhausen (9), wie aus der schriftlichen Antwort der Landesregierung hervorging. "Ich werde das Problem weiter im Auge behalten, weil es mir nicht einleuchtet, dass es immer noch bekannte Personen aus der rechtsextremen Szene gibt, die Waffen besitzen", erklärte Weng gestern auf MT-Anfrage.
Im Kreisgebiet wohnt mehr als nur der eine, wegen zahlreicher bis heute verschwundener Waffen polizeibekannte Reichsbürger aus Stemwede, der keiner sein will, obwohl er diverse der für diese Personengruppe typischen Thesen vertritt. Unter anderem, dass Deutschland noch besetzt sei und das Recht der Alliierten gelte. Auch verweigert er Richtern die Anerkennung, es sei denn, sie können ihm beweisen, dass sie tatsächlich für ein Gericht tätig sind und nicht für eine Firma.
Die Zahlen, die Weng erhalten hatte, stammten vom August vergangenen Jahres und bezogen sich auf Personen, die die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen und demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation absprechen. Im Lübbecker Land leben die meisten von ihnen in Espelkamp (6), gefolgt von Hüllhorst, Pr. Oldendorf und Stemwede (jeweils 4), sowie Rahden (3) und Lübbecke (2).
Auch zu Wengs Nachfragen nach Waffenbesitz von Reichsbürgern enthielt die Antwort des NRW-Innenministeriums Informationen. Demzufolge ist der Kreispolizeibehörde ein Reichsbürger bekannt, der über eine waffenrechtliche Erlaubnis in Form eines Kleinen Waffenscheins verfügt. Seit 2016 wurden drei Verfahren zum Widerruf der waffenrechtlichen Erlaubnis im Mühlenkreis eingeleitet und fünf davon bestandskräftig widerrufen.
Etliche Personen aus der rechtsextremen Szene besitzen registrierte Waffen
Aufgefallen waren Reichsbürger beispielsweise in der Pr. Oldendorfer Nachbarkommune Bad Essen, wo sie im Januar 2017 mit Flugblättern für sich warben, die sie anonym verteilt hatten. Auf dem Flugblatt riefen die Verfasser unter anderem dazu auf, einen "Staatsangehörigkeitsausweis" zu beantragen. Diesen für 25 Euro auszustellen boten die Reichsbürger an. "Der Bundespersonalausweis oder der deutsche Reisepass sind kein Nachweis über den Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit. Sie begründen lediglich die Vermutung, dass der Ausweisinhaber die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt", so die Argumentation.
Zu einem gravierenden Vorfall war es in Bad Essen ein Jahr zuvor gekommen. Im Februar 2016 war ein Gerichtsvollzieher von einem Reichsbürger mit einem Baseballschläger angegriffen worden. Bei der folgenden Gerichtsverhandlung wurde der Mann zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Auch dessen Ehefrau ist seitdem wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte vorbestraft.
Wie ein langjähriger Beobachter der extremen rechten Szene auf MT-Anfrage erklärte, sei im Raum Ostwestfalen-Lippe von einer Zahl von 470 bis 490 Reichsbürgern auszugehen - das prominenteste Mitglied sei die zur Zeit inhaftierte Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck.
Keineswegs handele es sich bei Reichsbürgern und so genannten Selbstverwaltern um harmlose Spinner. "Bei vielen ist eine Affinität zu Waffen festzustellen."
Auch zwei in Minden lebende Reichsbürger waren bereits zum Problem geworden, wie ein Bericht eines Polizeibeamten im Ausschuss für Bürgerdienste, Sicherheit und Feuerschutz im vergangenen Jahr ergab. Weitere Details wurden bislang von der Mindener Polizei nicht bekannt gegeben. Ende April 2016 hatten 60 Beamte ein von Reichsbürgern illegal besetztes Haus in Porta Westfalica-Hausberge ausgehoben und den rund 30 Personen einen Platzverweis erteilt. Wie der Rechtsextremismus-Experte festgestellt hat, ließ sich ein Teil der Mitglieder im benachbarten Landkreis Schaumburg nieder. Andere waren in die fünf neuen Bundesländer abgewandert.
Bildunterschrift: Im April 2016 räumte die Polizei mit einem Großaufgebot ein verkauftes Haus in Hausberge, aus dem Reichsbürger nicht ausziehen wollten.
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Am 2. Dezember 2019 bezifferte die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen (17/8039), die Anzahl von "Reichsbürgern" und "Selbstverwaltern" im Kreis Minden-Lübbecke mit 81 - hiervon 20 in Porta Westfalica.
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www.landtag.nrw.de/Dokumentenservice/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD17-8039.pdf
www.minden-luebbecke.de/Service/Integration/NRWeltoffen
www.mobile-beratung-owl.de
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