Westfalen-Blatt / Bielefelder Zeitung ,
06.03.2020 :
"Erinnern gegen das Vergessen-wollen"
Ausstellung im Rahmen der "Aktionswochen gegen Rassismus" in der Stadtbibliothek
Von Jonas Ignorek
Bielefeld (WB) Es ist eines der düstersten Kapitel der Geschichte Bielefelds. Am 2. März 1943 wurden vom Bielefelder Hauptbahnhof 234 Juden nach Auschwitz-Birkenau deportiert.
Im Zuge der "Aktionswochen gegen Rassismus" erinnern jetzt muslimische Frauen der Bielefelder Initiative gegen Antisemitismus und Islam-Feindlichkeit (BIgAI) in einer Ausstellung in Kooperation mit der Stadtbibliothek, dem Stadtarchiv und der Landesgeschichtlichen Bibliothek an dieses Ereignis. "Wir wollen den Menschen eine Erinnerungskultur näherbringen. Und zwar Deutschen und Muslimen", sagte Namé Ayaz-Gür, die Vorsitzende der Initiative. Sie möchte Antisemitismus und Islam-Feindlichkeit zusammen gedacht wissen.
Die Initiative wurde erst 2020 gegründet und entstand aus der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIGA). Jede Woche gibt sie Seminare für muslimische Frauen.
Ayaz-Gür sammelte Briefe und Informationen von Überlebenden mit Hilfe der Familie Decker, die sich seit Jahren für die Erinnerung an die Bielefelder Juden engagiert. Diese präsentierte sie mit Bildern des Lili-Jacob-Albums, das Bilder von Auschwitz und vom Tag der Ankunft am 3. März 1943 beinhaltet. Ayaz-Gür betonte, dass die Briefe für alle Frauen übersetzt wurden, "um das Ausmaß des Verbrechens deutlich zu machen". Bei der Präsentation wird klar: Das von SS-Fotografen aufgenommene Album sollte Ordnung, Disziplin und Fügsamkeit der Juden verbildlichen und zeigt nicht die wahren Begebenheiten, nämlich "Chaos und Brutalität".
An Hand mehrerer Zeugenberichte von Überlebenden wie Hans Frankenthal, Werner Jacob, Paul Hoffmann, Ernst Michel und Jürgen Löwenstein beschreiben die Frauen der BIgAI die dramatischen Geschehnisse kurz nach der Ankunft aus Sicht der Opfer. Sie offenbaren die unmenschlichen Zustände in den überfüllten Waggons, zeigen, wie SS-Wachmänner die Juden heraustrieben und verprügelten und dabei Kleinkinder ermordeten. Vor allem die erste Selektion besiegelte das Schicksal vieler Menschen und Familien. Viele Männer wurden durch ihre Arbeitsfähigkeit zur Zwangsarbeit eingeteilt und überlebten so. Den meisten Frauen, Kinder und Arbeitsunfähigen war ein anderes Schicksal beschieden: Sie wurden kurz nach der Selektion vergast.
Von den 234 Menschen aus Bielefeld überlebten nur 26 Männer und drei Frauen den Holocaust. Heute erinnert ein Mahnmal am Hauptbahnhof an die Menschen, die ab 1941 aus Bielefeld deportiert wurden.
Brigitte Decker von der Friedensgruppe der Evangelischen Altstädter Nicolaigemeinde setzte sich dafür ein, dass das Mahnmal am Hauptbahnhof 1998 errichtet wurde. "Die Stadt wollte es erst auf dem jüdischen Friedhof bauen, aber wir wollten, dass es an dem Ort steht, wo es passiert ist", sagte sie.
Bei der Präsentation zitierte Ayaz-Gür Worte von Prof. Dr. Andreas Zick von der Universität Bielefeld, der die Initiative angeregt hatte: "Wichtig ist das Erinnern gegen das Vergessen-wollen".
Bildunterschrift: Namé Ayaz-Gür, Vorsitzende der Bielefelder Initiative gegen Antisemitismus und Islam-Feindlichkeit (links), zusammen mit dem Leiter des Stadtarchivs Dr. Jochen Rath. Die Bilder zeigen nur einen Teil des Verbrechens an den Bielefelder Juden.
Bildunterschrift: Ein Bild des Lili-Jacob-Albums zeigt die Selektion von Frauen und Männern nach der Ankunft in Auschwitz.
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Am 2. März 1943 mussten mindestens 76 jüdische Frauen, 124 Männer, 20 Kinder sowie 13 Säuglinge am Bielefelder Bahnhof Viehwaggons besteigen - in der Nacht zum 4. März 1943 traf der Zug in Auschwitz ein.
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www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_wfn_43a.html
www.historischer-rueckklick-bielefeld.com/2018/03/01/01032018/
www.stadtarchiv-bielefeld.de
www.ki-bielefeld.de/174-Antirassismus_-_Aktionswoche
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