Deister- und Weserzeitung ,
26.04.2005 :
"Eine unruhige, aufregende Zeit brach an" / Das Lebensgefühl einer Jugendlichen nach dem Kriegsende / Aus dem Tagebuch einer 15-Jährigen
Von Bernd Gelderblom und Liselotte Mehler
Hameln. Liselotte Mehler hat das Kriegsende in Hessisch Oldendorf als 15 Jahre altes Mädchen erlebt. Sie berichtet über ihr "ungläubiges Entsetzen" angesichts der Nachrichten von den Konzentrationslagern. "Für mich brach in diesem Augenblick eine Welt zusammen. Wir waren mit unserer jugendlichen Begeisterung missbraucht worden."
Die Zeit der Besatzung erlebt das junge Mädchen als eine "unruhige, aufregende Zeit". Sie erlebt einerseits großen Kummer, als zwei polnische Zwangsarbeiter ihr Fahrrad stehlen, hat eine Ahnung von der alltäglichen Mühsal, die es ihren Eltern bereitet, Nahrung und Kleidung zu beschaffen. Aber im Vordergrund steht für sie doch die Neugierde auf das Neue, die amerikanischen Soldaten, darunter besonders die "Neger", aber auch auf die Vergnügungen, das Tanzen und das Kino, die nach den grauen Jahren des Krieges plötzlich möglich waren.
Kinder wie Liselotte Mehler haben die Nachkriegszeit anders erlebt als die Älteren. Sie wuchsen offen und unbefangen in die neue Zeit hinein, hatten nicht die Bindungen wie ihre Eltern. Der folgende Text ist ein Auszug aus ihrem Tagebuch, das sie damals geschrieben hat:
"Am 11. April war es soweit: Die Amerikaner hielten Einzug in unsere Stadt. Für mich brach in diesem Augenblick eine Welt zusammen, denn irgendwie hatte ich noch auf ein Wunder oder die angekündigte `Wunderwaffe` gehofft. Nun hörte man mit ungläubigem Entsetzen von Konzentrationslagern und schrecklichen Gräueltaten, und ganz, ganz langsam dämmerte es: Wir waren mit unserer jugendlichen Begeisterung missbraucht worden.
Nun brach eine unruhige, aufregende Zeit an. Ganz vorsichtig näherten wir uns den `Siegern`. Nicht nur Neugier, auch der Hunger auf langentbehrte Süßigkeiten trieb uns.
Bis dahin hatte ich noch nie einen Neger in natura gesehen. Wir merkten schnell, dass sie nicht nur kontaktfreudig, sondern auch freigiebig waren. Sie schenkten uns Kaugummi, das wir gar nicht, und Schokolade, die wir nicht mehr kannten. Als sie wieder fort mussten, hatten wir mit einigen Freundschaft geschlossen und waren richtig traurig.
An die erste Zeit nach Kriegsende habe ich sehr widersprüchliche Erinnerungen. Einesteils war man befreit von Angst und Sorge, andererseits ahnten wir, dass schwere, entbehrungsreiche Zeiten anbrachen. Der erste Kummer ließ nicht lange auf sich warten. Die Polen, die als Zwangsarbeiter hier waren, fühlten sich auch als Sieger und plünderten. So erschienen eines Tages auch bei uns zwei Polen, sahen mein geliebtes Fahrrad im Hof und nahmen es kurzerhand mit. Es war damals unersetzlich, und ich war untröstlich und habe ihm manche Träne nachgeweint.
Zuerst war abends Sperrstunde, und niemand durfte das Haus verlassen. Nach einigen Wochen konnte man bis 22.30 Uhr ausgehen. Die Besatzungstruppen suchten nun Kontakt zu der Bevölkerung, naturgemäß vorwiegend zu dem weiblichen Teil und veranstalteten Tanzabende. Viele junge Mädchen gingen hin und profitierten davon in Form von Nahrungsmitteln und Zigaretten.
Es herrschte plötzlich ein ungeheurer Nachholbedarf an Vergnügungen. Überall wurde getanzt, im Bothmannschen Saal, in der `Börse` und im Schützenhaus. Wir hörten die schwungvolle Musik und beneideten die etwas Älteren. Für uns blieb vorerst als einzige Abwechslung das Kino. Sehnsüchtig betrachteten wir uns im Schaufenster bei Lücke/Stegemann die Kinobilder, aber leider waren die schönsten Liebesfilme nicht jugendfrei. Und streng waren damals die Bräuche: Am Kinoeingang stand oft ein Polizist, der im Zweifel den Ausweis kontrollierte. Dabei waren die Filme recht harmlos. Das Kino war immer ausverkauft. Wollte man eine Karte haben, musste man stundenlang anstehen.
Dann öffnete eine Tanzschule ihre Pforten, und ich durfte mich trotz Geldmangels anmelden. Nun war es wieder mit dem Anziehen problematisch. Nach einem Familienrat wurde beschlossen, eine blaue Tischdecke und einen rotkarierten Bettbezug zu opfern, und ich bekam einen Rock und ein paar Blusen. Zum Mittel- und Abschlußball trug ich ein Vorkriegsseidenkleid meiner Tante und auch ihre Pumps.
Im Dezember fing die Schule wieder an. Wir freuten uns darauf, aber die Schwierigkeiten waren groß. Unsere Klasse war zunächst in Hameln im Feuerwehrhaus am Ostertorwall untergebracht. Da saßen wir nun an Tischen, hatten keine Hefte und keine Schulbücher, denn die alten durften nicht mehr benutzt werden. Ich hatte ein dickes Kontobuch von meinem Vater, in das ich alles Wichtige mitschrieb, was der Lehrer an die Tafel schrieb oder mündlich erklärte. Nach diesen Aufzeichnungen lernte ich zu Hause.
Unter diesen Umständen war der Unterricht für Lehrer und Schüler gleichermaßen schwierig, zumal die Schülerzahl durch die vielen Flüchtlinge angewachsen war und alle Neuen eine unterschiedliche Vorbildung hatten. Zum Chemie- und Physikunterricht gingen wir schon mal zur Oberschule für Jungen (Schiller-Gymnasium). Das war für uns und für die Jungen, die feixend und winkend hinter den Fenstern oder auf dem Schulhof auftauchten, eine aufregende und willkommene Abwechslung."
Der Text ist dem Buch "Kriegsende, Not und Vertreibung" entnommen, zusammengestellt von Gerhard Bruns, Heimatblätter Hessisch Oldendorf Heft 12, Hameln 1996.
Lesen Sie morgen: Steuern wurden auch nach Kriegsende kassiert.
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