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Gütersloher Zeitung / Neue Westfälische , 25.04.2005 :

"Es gibt noch 1.000 Sachen zu erzählen" / Erinnerungen an das Kriegsende vor 60 Jahren

Gütersloh (rb). Das Interesse war groß. Rund 70 Gütersloher füllten den unteren Ausstellungsraum des Stadtmuseums, um "Erinnerungen an das Kriegsende vor 60 Jahren" auszutauschen. Heimatverein und Stadtarchiv hatten dazu eingeladen, Hans-Dieter Musch moderierte den Abend. Die Wortbeiträge wurden auf Band aufgenommen, um sie später auszuwerten.

Manche nickten, wenn andere berichteten: Ereignisse der letzten Kriegsmonate und der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden sehr lebendig. Man erinnerte an bedrückende Erfahrungen für die ganze Stadt, wie den großen Luftangriff am Totensonntag 1944, den etwa Otto Kleinerüschkamp in der zerstörten Apostelkirche nur knapp überlebt hatte. Und es wurden Einzelerlebnisse beigesteuert, die ein facettenreiches Gesamtbild ergaben.

Otto Kleinerüschkamp, Jahrgang 1930, war von Volkssturmleuten noch zum Sprengen von Brücken mitgenommen worden, aber unterwegs "abgehauen". Friedrich-Wilhelm Kleßmann, der mit Arbeitsdienstlern gen Weser marschierte, verschwand damals unauffälig zu einem Onkel nach Lemgo, wo erstmal die Uniform in den Ofen kam. Per Fahrrad fuhr der 16-Jährige nach Hause.

Nach einem Fronteinsatz wurde die junge Unterstabsärztin Lotte Heller im Gütersloher Lazarett eingesetzt. "Wir haben amputiert mit dem Atlas daneben", beschrieb Dr. Heller diese praktische Not-Ausbildung. "Aber es ging, es musste gehen." Neben deutschen Soldaten seien auch abgeschossene amerikanische behandelt worden.

Wie die Amerikaner in die Stadt kamen, schilderte Helga Collatz. "Es hieß ja, dass die Stadt verteidigt werden sollte." Deshalb sei die Familie mit Bollerwagen vom Südring zu Bauer Großewinkelmann am Wapelbad gegangen. Sie hätten kaum eine Lücke zum Überqueren der Wiedenbrücker Straße gefunden, wo deutsches Militär auf dem Rückmarsch gewesen sei. Auf dem Heuboden des Bauern hätten 50 Menschen Schutz gesucht. Noch immer mit Schaudern denkt sie an das bald darauf nachts ertönende "Rasseln der amerikanischen Panzer".

Im Bereich Hellweg waren "die Landser bekürt" worden, ihre Panzersperre abzubauen, wie sich sich Hugo Wittenbrink an die Tage um Ostern ’45 erinnerte, als Realitätssinn um sich griff. Noch kurz davor hatte ein Lehrer der Altstadtschule Übungen an der Panzerfaust abhalten wollen. Aber das habe schon deshalb nicht mehr geklappt, meinte Otto Kleinerüschkamp, weil "wir viel zu viel damit zu tun hatten, Bombentrichter zuzuschütten".

Lucie Göhsldorfs Vater hatte seinen Kindern noch das Schießen beigebracht. "Als die Amis dann kamen, haben wir die Pistole im Garten vergraben." Und bis heute nicht wiedergefunden.

Während Lucie Göhlsdorf als junges Mädchen zumal die fremdartig anmutenden schwarzen Soldaten verunsichert betrachtete, waren sie für Hugo Wittenbrink "sehr freundliche Leute".

Waren sie Befreier? Hans-Dieter Musch, der das Kriegsende als 11-Jähriger in Süddeutschland erlebt hat, drückte die anscheinend einhellige Meinung im Raum aus: "Wir haben das ja alle gar nicht als Befreiung empfunden." Natürlich sei man froh gewesen, dass das Schießen aufhörte. Der historisch richtige, aber nachträglich objektivierende Begriff "Befreiung" deckt sich offenbar nicht mit den damaligen, subjektiven Empfindungen Jugendlicher, denen das Dritte Reich als totaler Staat zwangsläufig die Welt war.

Die Erinnerungsstunde könnte laut Musch zu einer kleinen Reihe erweitert werden. Denn Helga Collatz hatte für viele gesprochen, als sie sagte: "Ja, man könnte noch 1.000 Sachen erzählen."


lok-red.guetersloh@neue-westfaelische.de

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