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Deister- und Weserzeitung , 25.04.2005 :

"Deutschland ist ja sowieso erstmal fertig" / Aus dem Brief einer Hamelnerin an ihren in einem US-Lazarett liegenden Ehemann von der SS

Von Bernd Gelderblom

Hameln. Nach quälenden Monaten der Ungewissheit hat eine Gertrud M. nach dem Ende des Krieges gerade ein Lebenszeichen ihres der SS angehörenden Mannes erhalten. Sie weiß jetzt, dass er sich mit einer schweren Verwundung in einem US-Lazarett befindet. In einem 21 Seiten langen Brief, der in den Tagen vom 30. Juli bis 5. August 1945 entsteht, beschreibt sie die Ereignisse in Hameln seit Januar 1945 bis zur Gegenwart. In diese Zeit fällt auch die Geburt ihres dritten Kindes. Kurz bevor die Amerikaner Hameln einnehmen, flüchtet die hochschwangere Frau zu Bekannten nach Dohnsen und wartet dort mit ihren Kindern, den Eltern und vielen anderen Menschen auf das Ende der Kämpfe. Am 29. Juli 1945 erhält sie die Nachricht, dass ihr Mann lebt.

Zwei Tage später schreibt sie: "Heinrich, wir müssen eben Geduld haben. Wir wissen voneinander und wollen zufrieden sein. Wenn ich an die vielen, vielen denke, die auf ein Lebenszeichen warten; vorgestern gehörte ich auch noch zu denen. Heinrich, wie freuen sich alle mit uns, dass Du lebst. Du glaubst nicht, wie wohltuend solch herzliche Mitfreude ist. Dabei sind viele darunter, die selbst noch keine Nachricht haben und sich doch freuen, dass ich erst mal Post habe nach all` dem Schweren (gemeint sind die letzten Kriegsmonate in Hameln mit ständigem Luftalarm und den schwierigen Lebensumständen, d.Red.).

Außerdem weiß ich nicht, wie sie sich überhaupt Dir gegenüber als SS-Mann verhalten. Ja, wer hätte das geahnt! Wenn ich Dir darüber schonungslos die Wahrheit sagen soll, so muss ich sagen, dass sie Dich, wenn Du als gesunder Mensch zurückgekommen wärest, schon wieder abgeholt hätten. Ich hoffe jedoch fest, dass alles sich beruhigt hat, wenn Du mal kommst, zumal Du schwer verwundet bist.

Wir kamen am 25. April nach vier langen Wochen mit einem Milchkannenauto mit ungeheuer viel Gepäck von Haus Harderode nach Hameln. Der Einzug war jammervoll, denn das Herz tat einem weh, als man die vielen, vielen Ausländer, Russen, Polen, Franzosen, Amerikaner sich frei und ungebunden in unseren Straßen bewegen sah.

Ich hatte eine Höllenfahrt hinter mir in dem Zustand und einem ungeheuren Tempo über schlechte Straßen nach Hameln. Da musste das Kind unbedingt kommen. Es kam dann auch am übernächsten Tag. Am 27. April 1945 wurde unser kleiner Bernd mittags 1.15 Uhr im Kreiskrankenhaus geboren. Im Krankenhaus waren die Verhältnisse wahnsinnig, lässt sich denken! Keine Fensterscheiben, keine Heizung, kein Gas, kaltes Essen usw. usw. Dazu kamen die Kriegsereignisse, es ging dem Ende zu. Die Sorge, die ich um Dich hatte! Die Drohungen über das Ausmerzen der Nationalsozialisten.

In den Monaten Mai, Juni, Juli stürmte dann noch sehr vieles auf mich ein. Das Schlimmste war immer diese Parteiangelegenheit, SS usw. Man wusste ja nicht, ob sie nicht eines Tages in die Wohnung kamen, um uns rauszusetzen usw. Aber es kam niemand. Wohl hat man in der Sparkasse nach Dir gefragt, ob Du schon zurück seiest (von Seiten der Militärregierung). T. und H. und R. sind zuerst geholt worden. Angeblich sind sie bei Paderborn mit anderen Parteigenossen. Na, man hofft, dass sie nicht mehr zu lange festsitzen.

Im ganzen Leben wird keine Politik wieder getrieben, es kommt keine Fahne wieder aus dem Fenster. Deutschland ist ja leider sowieso erstmal fertig. Gehalt bekommen wir Frauen alle nicht mehr, deren Männer nicht zurück sind. Ich bekomme auf Antrag 108 Reichsmark von der Wohlfahrt für uns. Im übrigen sind alle existenzlos, denn man kündigt alle Parteigenossen am laufenden Band. Lieber Heinrich, ich schreibe Dir das alles, weil Du darum batest, es hat ja keinen Zweck, dass Du Dich falschen Hoffnungen hingibst. Unsere Existenz ist auch hin." Heinrich M. wurde in mehreren amerikanischen Lazaretten behandelt und durfte 1947 nach Hause zurückkehren.

Politische Belastete, darunter alle SS-Männer, deren Organisation vom Nürnberger Gerichtshof als verbrecherisch erklärt worden war, kamen grundsätzlich auf zunächst unbestimmte Zeit in Internierungslager. Das Lager befand sich in Staumühle bei Paderborn. Die Familien mussten schwere berufliche Nachteile hinnehmen. Die Ungewissheit über die persönliche Zukunft löste tiefe Hoffnungslosigkeit aus. Gegenüber der Besatzungsmacht und allen, die mit ihr kooperierten, resultierte daraus eine stumme Verweigerung. Man hatte das Gefühl, den Siegern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. Das führte zunächst zu einer wachsenden Ablehnung der Alliierten, die man für die Misere der Gegenwart verantwortlich machte.

So wie diese Frau schwankte die Masse der Bevölkerung zwischen Hoffnungslosigkeit und Apathie. Es war für viele eine Zeit des Elends und der Desorientierung. Die Besetzung wurde als Niederlage und tiefe Demütigung erlebt. Nie zuvor gab es einen radikaleren Bruch mit der eigenen Geschichte, nie zuvor wurden Wertvorstellungen und Traditionenso tief greifend gebrochen. Dies betraf besonders viele Jugendliche, von deren idealistischem Engagement die HJ und der BDM gezehrt hatten. Sie durchlebten einen brutalen Prozess der Desillusionierung im Chaos der Nachkriegszeit.

Lesen Sie morgen: Das Lebensgefühl der Jugend.


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