Deister- und Weserzeitung ,
23.04.2005 :
"Off limits" mit Tuberkulose und vielen anderen Tricks / Wie sich Familie Riechert gegen die Beschlagnahme ihres Hauses wehrte / Eine Gruft als Versorgungslager
Von Wolfhard F. Truchseß
Hameln. Mit dem Ende des Krieges und der Übernahme der Macht durch die Besatzungskräfte verschlechterte sich in Hameln die Lebenssituation vieler Menschen dramatisch. Nur wer über einen eigenen Garten oder über Beziehungen zu Bauern verfügte, kam einigermaßen über die Runden. Dramatisch war die Lage auch, weil erst die Amerikaner und dann die Briten zahlreiche Häuser und damit viel Wohnraum beschlagnahmten. So wurden in Hameln Gebäude für die UNO-Hilfsorganisation UNRRA (United Relief and Rehabilitation Administration) beansprucht, die sich um die "Displaced Persons" (verschleppte Personen), die DPs, kümmerte. Zu den DPs gehörten alle Zwangsarbeiter und KZ-Gefangenen fremder Staats- oder Volkszugehörigkeit, die nach Deutschland oder in die von Deutschland besetzten Gebiete in Konzentrationslager oder zur Zwangsarbeit geholt oder verschleppt worden waren. Mit Kriegsende waren das 10,3 Millionen Menschen, in Hameln etwa 10.000.
Die Beschlagnahme von Wohnraum erfolgte auf einfachste Art und Weise. Dem Bürgermeister wurde mit dem Formblatt "21 Army Group Form 77" ein Befehl zugestellt, mit dem angeordnet wurde, diese oder jene Wohnung möbliert "für die Britische oder Alliierte Besetzung zur Verfügung zu stellen". So erging es auch der Familie Riechert, die das Erdgeschoss ihres Hauses in der Schillerstraße 10 zum 30. Juni 1945, 12 Uhr, räumen sollte. Die Wohnräume sollten von der UNRRA übernommen werden, wie sich Adelheid Krumsiek, geb. Riechert, erinnert.
Einen ersten Versuch der Amerikaner, die Villa zu beschlagnahmen, hatten Riecherts erfolgreich abgewehrt. In der Familie "waren einen Tag nach der Beschlagnahmeverfügung die Masern ausgebrochen". Woraufhin ein US-Offizier anordnete: "Sie bleiben hier drin." Er ließ am Haus ein Schild anbringen: "Off Limits". Ein herbeigerufener Arzt der US-Army ließ sich allerdings nicht täuschen. Doch ein Hustenanfall von Adelheid Riechert mit dem Hinweis der Mutter, "die hat Tuberkulose", rettete den verbliebenen Wohnraum. Zusätzlich waren in die Riechert-Villa nämlich zahlreiche Flüchtlinge eingewiesen worden. Adelheid Krumsiek: "Wir lebten zeitweise mit 26 Menschen auf engstem Raum. Es war unerträglich."
Einen Tag später waren wie im Klütviertel sämtliche Häuser in der Goethe-, Schiller- und Chamissostraße und die "SA-Siedlung" in den Gänsefüßen beschlagnahmt. "Alle Bewohner mussten sofort aus den Häusern raus und sich andere Unterkünfte besorgen. Und wo die Amerikaner drin waren, sah es hinterher meist furchtbar aus."
Der Versuch der Briten, das Riechert-Haus für die UNRRA zu requirieren, misslang. Als das Haus beschlagnahmt werden sollte, ließ die Familie mit vorher aufgefüllten Badewannen die Sickergrube im Garten überlaufen. "Da waren wir sie wieder los." Stattdessen wurde die Krause-Villa für die UNRRA genommen. Dort im Keller wurden "die schönsten Sachen eingelagert", erinnert sich Hans Krumsiek. "Whisky, Schokolade und lauterSachen, die man sonst nirgends bekommen konnte. Da haben wir geklaut wie die Raben."
Die Krumsieks hatten noch auf andere Weise ihre Versorgung in dieser Zeit sichergestellt. Auf dem Friedhof Wehl, wo die Familie des Leiters des Garten- und Friedhofsamtes wohnte, gab es damals eine einzige Gruft - die der Familie Knust-Mahlmann. Hans Krumsiek: "Die hatte mein Vater geöffnet und mit Speckseiten, Schinken und anderen Vorräten gefüllt. Das war ein ganz hervorragendes Versteck."
Krumsieks hatten nicht nur gut für sich vorgesorgt, sondern auch ein fahrbares Schmuckstück über den Krieg gerettet. Es war ein Adler Trumpf Junior Cabriolet, das während des Krieges aufgebockt in der Garage stand und einmal in der Woche "gefahren" wurde, um die Motorteile beweglich zu halten.
Günter Brackhahn und Horst Knoke berichten über diese Zeit, wie sie ihre Familien aus der zerstörten Wesermühle mit "Brand-Weizen" versorgt und nasses Getreide aus einem vor der Mühle gesunkenen Bockschiff geholt haben. "Das wurde getrocknet, in einer Kaffeemühle gemahlen und zu Brot verbacken."
Lesen Sie am Montag: Briefe einer Ehefrau an ihren gefangenen SS-Mann.
23./24.04.2005
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