Deister- und Weserzeitung ,
22.04.2005 :
"Unsere menschliche Lage ist unmenschlich" / Hungersnot in der Nachkriegszeit / Astronomische Preise auf dem Schwarzmarkt / Massenproteste
Von Bernhard Gelderblom
Hameln. Auch wenn nach dem Ende des Krieges völlig offen war, wie es mit Deutschland weitergehen sollte - zuvorderst galt es, das unmittelbare Überleben zu organisieren. Ernährung, Unterkunft und Gesundheit spielten in den Sorgen und Ängsten der Menschen die Hauptrolle.
An Kohle, Gas und Strom herrschte großer Mangel. "Kohlenklau" gehörte zum Alltag. Besonders im kalten Winter 1946 riskierten die Menschen ihr Leben, wenn sie Kohle von fahrenden Zügen entwendeten. Strom wurde nur stundenweise zugeteilt. Die hungernde und frierende Bevölkerung konnte nicht einmal in einer hellen Stube sitzen.
Um die Bevölkerung mit Brennholz zu versorgen, erlaubte die Stadt Hameln das Schlagen von Bäumen im Stadtforst. Ab 6. September 1945 nahm die Kohlenstelle in der Erichstraße Meldungen freiwilliger männlicher Helfer entgegen, die sich am Holzeinschlag beteiligen wollten. Der besonders harte Winter 1946 zwang die Stadt zur Einrichtung öffentlicher "Wärmehallen". Noch 1948 gab es heftige Proteste, als die Briten für eigene Zwecke großflächig Holz in den Hamelner Forsten schlugen.
Hunger machte den Menschen weniger während des Krieges, als vielmehr in der Nachkriegszeit zu schaffen. Die Zuteilungen lagen durchschnittlich in Höhe der Hälfte des täglichen Kalorienbedarfs. Die Briten, die selbst unter Nahrungsmittelknappheit zu leiden hatten, verlangten, dass die Deutschen sich aus ihrer eigenen Zone ernährten. Weil die Äcker im Frühjahr 1945 kaum bestellt wurden, fiel die Ernte im Sommer mager aus. Diesen Mangel konnte die Bevölkerung noch durch Vorräte und Zugriff auf die Wehrmachtsdepots ausgleichen. 1946 war die Ernte jedoch ebenfalls schlecht, weil es an Dünger, Saatgut und Arbeitskräften fehlte. Das hatte schlimme Folgen.
In Hameln wurde bereits am 3. Dezember 1945 der Anbau von "Delikatessen" (z. B. Spargel) unter Strafe gestellt. Öffentliche Gartenanlagen sollten umgepflügt werden, um Anbauflächen für Getreide, Gemüse und Kartoffeln zu gewinnen. Da Brotgetreide fehlte, wurde es mit Maismehl verlängert. Das ungeliebte Maisbrot, das wie Biskuit aussah, hatte geringen Nährwert und einen bitteren Nachgeschmack.
Seit März 1946 herrschte faktisch Hungersnot. Am 4. März 1946 war die Brotzuteilung für Normalverbraucher von 10 auf 5 kg halbiert worden, die Zuteilung an Nährmitteln von 2 kg auf 1 kg. Die höheren Rationen für Arbeiter und werdende und stillende Mütter wurden entsprechend gesenkt. Schwerarbeitererhielten für den Tagesbedarf 1.714 Kalorien, Kinder von 10 bis 18 Jahren 1.148 Kalorien.
Am 8. November 1946 sahen sich die Briten, die die Lebensmittelversorgung eigentlich den Deutschen überlassen wollten, gezwungen, die Schulspeisung von der Stadt in ihre Regie zu übernehmen. Alle deutschen Schulkinder erhielten markenfrei 300 Kalorien (bis 12 Jahre) bzw. 480 Kalorien (bis 18 Jahre). Da die dabei ebenfalls ausgegebene Schokolade sich gut zum Tauschen geeignet hätte, mussten die Kinder sie noch in der Schule essen.
Durch "Hamsterfahrten" aufs Land und Sammeln von Pilzen, Bucheckern undähnlichem versuchten die Menschen ihre Ernährung zu verbessern. Am 6. November 1946 lieferten die Hamelner bei einer Sammelaktion der Stadt die gewaltige Menge von 2.300 Zentnern Bucheckern ab. Die Stadt gab dafür 2.600 Zentner Margarine und Speiseöl aus.
Der Mangel an Lebensmitteln führte dazu, dass die Preise in astronomische Höhen stiegen. Die Not trieb die Menschen auf den Schwarzmarkt, wo zu überhöhten Preisen alles zu bekommen war. Ein Dreipfundbrot kostete im Dezember 1946 100 RM (offiziell 40 Pfennige), ein Pfund Butter 600 Reichsmark. Für eine deutsche "Bosco"-Zigarette bezahlte man im Dezember 1946 2,50 RM, für eine amerikanische "Lucky Strike" 5 RM. Nicht selten bewegten sich das "Organisieren" und der Schwarzhandel hart am Rande der Kriminalität. So wenig war das Geld wert, dass manche Betriebe dazu übergingen, ihre Beschäftigten mit eigenen Produkten zu bezahlen. Diese wurden dann auf dem Schwarzmarkt getauscht und waren weitaus mehr wert als der in Reichsmark ausgezahlte Lohn.
Ein vereinzeltes gegen die Briten gerichtetes Zeichen des Protestes hatte es früh gegeben. Am 21. Oktober 1945 entdeckten die Briten an der Tür eines Hamelner Geschäftes ein Plakat mit einem Foto Hitlers und der Aufschrift "Gebt uns mehr Essen, sonst werden wir diesen Mann nicht vergessen".
Im Winter und Frühjahr 1947 spitzte sich die Lage weiter zu. In der Hamelner Bevölkerung, die durch Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten um etwa 10.000 Personen angewachsen war, herrschte tiefe Unruhe. Nach einer wiederholten Reduzierung der Lebensmittelzuteilung kam es zu einer ersten großen Hungerdemonstration. Am 27. Juni 1947 ruhte in den großen Hamelner Betrieben für zwei Stunden die Arbeit. An die Besatzungsmacht gewandt sagte Oberbürgermeister Heinrich Löffler: "Unsere menschliche Lage ist in höchstem Maße unmenschlich geworden. Wir wollen nicht verhungern."
Der OB von Braunschweig stellte für seine Stadt fest: "Die Stimmung gleicht einer Panik. Es besteht die Gefahr des Eintritts einer Hungerkatastrophe. Getrieben von Not und Elend zeigen sich Auflösungserscheinungen, wie sie noch nie da gewesen sind. Hungernde Familienväter, unterernährte Mütter und Kinder holen sich Kohle, Holz, Gemüse usw., wo sie es nur bekommen können. Die Ernährungslage ist so, dass ein Teil der Bevölkerung voller Empörung, der andere völlig apathisch ist. Schon in den frühen Morgenstunden stehen Frauen und Kinder und alte Leute blass und verhungert, dürftig bekleidet, stundenlang vor den Läden, um dann oftmals enttäuscht wieder nach Hause gehen zu müssen."
Um die größte Not zu lindern, belieferten die Briten ihre Besatzungszone seit Juni 1947 erstmals mit Lebensmitteln. Die Tagesrationen verdoppelten sich daraufhin von ihrem Tiefpunkt von 607 auf 1.200 Kalorien. Trotzdem kam es im Mai 1948 in Hameln zu einem weiteren großen Hungerprotest.
Trostlos war die Versorgung mit Kleidung. Sie war nur gegen Bezugsmarken erhältlich. Alle drei Jahre stand den Leuten ein Paar Schuhe zu. So wurden Schuhe getragen, bis sie auseinander fielen, Kinder wuchsen buchstäblich heraus. Wurden Kinderschuhe zu klein, schnitten die Eltern kurzerhand die Schuhspitze ab, so dass sie weiter getragen werden konnten. Dass jüngere Geschwister die Schuhe der älteren auftrugen, war selbstverständlich. Manche Geschwister gingen abwechselnd zur Schule, weil sie nur ein Paar gemeinsam besaßen. Wer notdürftig aus alten Reifen oder Stroh angefertigte Schuhe trug, bekam in Herbst und Winter nasse Füße, was vor allem bei Kindern Krankheiten nach sich zog.
Ansonsten sahen die Menschen zu, wie sie mit Vorhandenem auskamen. Erfindergeist war gefragt. Aus Fallschirmseide und Bettlaken entstanden Kleider, aus Wehrmachtsuniformen Kinderkleidung, aus aufgeribbelter Wolle neu Gestricktes.
Die Bevölkerung - über Jahre hinweg geschwächt - war für ansteckende Krankheiten und Infektionen besonders anfällig. Magen- und Darmerkrankungen waren verbreitet. Hautkrankheiten nahmen stark zu, weil Seife fehlte und die Menschen eng beieinander wohnten. Schulkinder hatten Läuse. Diphtherie, Typhusund besonders Tuberkulose waren weit verbreitet. Die Zahl der TBC-Fälle lag 1946 bei 51,2 je 10.000 Einwohner (1943 bei 7,3). Bereits im August 1945 brach im Landkreis Hameln-Pyrmont Kinderlähmung aus.
Lesen Sie morgen: Leben mit der Besatzung.
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