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Deister- und Weserzeitung , 21.04.2005 :

Die Stunde der Gewerkschaften - Neugründung lange vor den Parteien

Von Bernhard Gelderblom

Hameln. Nach der Besetzung Hamelns durch alliierte Truppen am 7. April 1945 bildete sich in Hameln sehr früh eine gewerkschaftliche Organisation. Am 29. April 1945 stellten "fünf alte Gewerkschaftler" einen Antrag auf Wiederzulassung der Gewerkschaften beim Militärkommandanten. Die Gewerkschaftsbewegung scheint in Hameln im britischen Militärkommandanten Major Lynden-Bell einen verständnisvollen Förderer gehabt zu haben. Bereits am 14. und am 27. Mai 1945 - lange vor Zulassung der ersten Parteien - fanden die ersten Besprechungen mit Vertretern der Arbeitgeber und des Militärkommandanten über den Wiederaufbau der Hamelner Wirtschaft statt.

Der Gewerkschaftssekretär Heinrich Löffler und spätere Oberbürgermeister von Hameln formulierte die Ziele der neu zu schaffenden Gewerkschaften laut Dewezet vom 29.5.1945 auf dieser Besprechung folgendermaßen: Die neue Gewerkschaft sollte "die Interessenvertretung für alle Schaffenden sein. Eine einzige Organisation für Arbeiter, Angestellte und Beamte in Industrie, Landwirtschaft, Handwerk, Handel und freien Berufen, ohne Rücksicht auf Konfessionen, Rasse und speziell politische Anschauung. Jeder kann Mitglied werden, der nachweislich nicht Nationalsozialist ist." Als Einheitsgewerkschaft organisiert, wollte die neue Gewerkschaft die "Mitverantwortlichkeit der Arbeitnehmerschaft" im neuen Staat zeigen, verfolgte also ausgesprochen politische Ziele.

Vertreter der Gewerkschaften nahmen an den Besprechungen mit Lynden-Bell teil und trugen Forderungen der Arbeiterschaft vor. Im Sommer 1945 besaß der Ortsausschuss der "Deutschen Gewerkschaft" im "Grünen Reiter" bereits ein eigenes Büro, welches an sechs Tagen der Woche für den Publikumsverkehr geöffnet war.

Aus einem Interview mit Felix Tuschke (KPD): "Die Engländer waren die ersten, die uns die Rechte gaben, uns zu organisieren, auch gewerkschaftlich. Wir durften auch Versammlungen machen, haben ein Lokal bekommen. Da haben wir uns organisiert und die ersten Besprechungen gehabt."

Obwohl sie von der Besatzungsmacht privilegiert wurden, war der Spielraum der Gewerkschaften gering. Die Alltagsprobleme absorbierten alle politischen Aktivitäten. Zunächst galt es, die dringendsten Tagesaufgaben zu bewältigen. Schutträumung, Wiederaufbau der beschädigten Fabriken, Sicherung der Ernährung und der Energiezufuhr. Das waren Aufgaben, denen sich die Gewerkschaften stellten.

Die Industrieproduktion war 1945 auf einem Tiefpunkt angelangt. Da es an Material und Arbeitskräften fehlte, konnte nicht genügend produziert werden, und da nicht genug hergestellt wurde, herrschte weiterhin Mangel. Die Auslastung der Unternehmen lag in Norddeutschland bei 45 Prozent. Frauen erwirtschafteten den Hauptanteil der Nachkriegsproduktion. Die Flüchtlinge beseitigten den Arbeitskräftemangel nur zu einem Teil, handelte es sich doch bei ihnen größtenteils nicht um Fachkräfte.

In der Domag, die kurz vor dem Kriege als Rüstungswerk mit 2.000 Arbeitsplätzen errichtet worden war, gelang es rasch, die Produktion auf zivilen Bedarf umzustellen. Aus einem Interview mit dem Arbeiter Josef Urbaniak (SPD):

"Auf der Domag haben wir angefangen, Feuerzeuge zu machen und Luftpumpen, von demübrig gebliebenen Material, was wir noch hatten. Damit wir erst mal überhaupt eine Beschäftigung hatten. Ungefähr ein halbes Jahr haben wir diese Feuerzeuge gemacht und Luftpumpen.

Dann drohten jedoch Demontagepläne der Briten die Produktion zum Erliegen zu bringen. Nur die zur Existenzsicherung notwendigen Betriebe sollten laut Potsdamer Konferenz erhalten bleiben, die übrigen zerstört oder demontiert werden. Die moderne Ausrüstung der Hamelner Domag stand auf der von den Briten publizierten Demontageliste."

Urbaniak (SPD): "Übrigens sollte die Domag erst gesprengt werden, demontiert, also dem Erdboden gleichgemacht werden. Das hat der Löffler, der Oberbürgermeister, in Hannover verhindert. Er hat gesagt: `Wir müssen das Werk behalten, denn sonst haben wir lauter Arbeitslose, und das gibt ein unzufriedenes Volk.`"

Dieselben Gewerkschafter, die für die Briten die wichtigsten Verbündeten bei der Organisation des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wiederaufbaus waren, reagierten wütend und empört auf die Demontagepläne. Nach ihrer Abwendung konnte in der Domag die aus Berlin kommende AEG die Produktion von Stromzählern aufnehmen.

Trotz großer Schwierigkeiten bei der Mitgliederwerbung zeigt die Entwicklung der Mitgliederzahlen steil nach oben. Ende Januar 1946 waren es 5.892 Mitglieder, am 31. Dezember 1947 waren es 17 343 Mitglieder. Dies zeugt von einer intensiven und erfolgreichen Arbeit. Die Gewerkschaften bewährten sich in der Lösung der praktischen Probleme.

So ist es nur konsequent, dass es im Frühjahr 1947 die Gewerkschaften waren, die in Hameln einen Streik wegen der katastrophalen Ernährungslage organisierten. Während einer Kundgebung der Allgemeinen Gewerkschaften im Monopolsaal ruhte in großen Hamelnern Betrieben für zwei Stunden die Arbeit. Im Mai 1948 kam es in Hameln zu einer weiteren großen Protestaktion mit rund 10 000 Streikenden gegen die unzureichende Ernährungslage, die wieder von den Gewerkschaften organisiert war. Der massive Einsatz der Gewerkschaften hatte Erfolg: Wenige Tage später wurde mit Wirkung vom 1. Juni 1948 die Brotration in Niedersachsen deutlich erhöht.

Lesen Sie morgen: Bittere Not und Schwarzhandel.


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