Tageblatt für Enger und Spenge / Neue Westfälische ,
21.04.2005 :
"Die Zeit der Gewalt war vorbei" / NW-Serie zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges: Paul Rothschild erinnert sich
Von Ulrike Kindermann
Enger. Anfang April 1945 waren amerikanische Panzerverbände auf dem Weg über Werther und Jöllenbeck in den Kreis Herford. Auch in Enger öffnete man die Panzersperren, und die Stadt konnte kampflos besetzt werden (die NW berichtete). Der Engeraner Paul Rothschild erinnert sich jetzt im Gespräch mit der NW an die Ankunft der Amerikaner, wie er sie als damals 12-Jähriger erlebt hat:
"Einige Tage vor Ostern fuhren Kolonnen durch Enger. Das waren rückfließende Truppenteile mit verwundeten Soldaten, die zum Teil in den Wagen auf Stroh gebettet waren. Dann wurden Kriegsgefangene, vielleicht auch KZ-Insassen, durch Enger geführt. Die waren zerlumpt, krank und elend und schleppten sich nur noch so durch.
Die Bevölkerung hat teilweise versucht, ihnen wenigstens ein paar Früchte zuzustecken, aber diese Leute wurden vom Bewachungspersonal zurückgejagt. Auch Engersche Polizeibeamte waren daran beteiligt.
Einmal war in diesen Tagen ein deutsches Sturmgeschütz durch Enger unterwegs. Das fuhr auf der Bruchstraße, der heutigen Spenger Straße, in westlicher Richtung. An der Einmündung der Straße "Zur Hegge" wurde es in Stellung gebracht. Dort haben es vorrückende Amerikaner beschossen. Die deutschen Soldaten waren aber schon getürmt.
Am Ostermontag - das muss der 2. oder 3. April gewesen sein - hörte ich Geschützfeuer in der Ferne. An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken. Man sah schon Gespenster, als ob der "Feind" schon in unserem Garten stand. Am 2. Ostertag hörte man auch, dass amerikanische Verbände schon in Jöllenbeck wären und dort die Weberei in Brand geraten war. Der Feuerschein von dort wies uns darauf hin, dass der "Feind" schon bald auch in Enger sein würde.
Am Vormittag sah ich über der Werther Straße ein Aufklärungsflugzeug sehr niedrige Kreisbögen fliegen. Da bin ich neugierig geworden und auf den Dachboden gestiegen. Wir wohnten damals an der Ecke Ringstraße/Spenger Straße.
Da konnte ich sehen, dass der Flieger über der Spitze der vorrückenden amerikanischen Truppen kreiste. Der hatte vermutlich Verbindung zu einem Jeep, der den Panzern vorausfuhr und ein rotes Tuch über die Motorhaube gespannt hatte.
Ich bin mit meinem Freund zur Werther Straße gelaufen, um den Einmarsch zu beobachten. Die Panzerkolonnen rollten in Richtung Enger-Mitte und stoppten nach 50 bis 100 Metern.
Mein Freund hatte eine Kiste Zigarren erstanden. Am Tag nach Ostern hatten nämlich die Zigarrenfabriken ihre Bestände an die Zivilbevölkerung verteilt, besonders an Wiederverkäufer. Am Maschinengewehr im Panzerturm stand ein "Schwarzer", der uns gehörigen Respekt einflößte, uns aber doch ganz freundlich angrinste. Mein Freund bot ihm seine Kiste mit Zigarren an, aber er lehnte ab mit den Worten: "No, boys."
Dann tauchte er in seinem Panzer unter und kam mit echt amerikanischen Zigaretten wieder zum Vorschein. Jedem von uns hat er ein Päckchen zugeworfen. Von da an kam uns der Einmarsch gar nicht mehr so gefährlich vor.
Die Zigaretten habe ich meinem Vater gegeben. Der hatte im Keller Zuflucht gesucht. Ich habe ihm gesagt: "Papa, für uns ist der Krieg aus, hier sind echte amerikanische Zigaretten für dich."
Vor dem Einmarsch hatte ich immer Angst gehabt, dass es auffallen würde, wenn meine Eltern den Londoner Schwarzsender hörten.
Es war gut gewesen, die Panzersperren gleich zu öffnen. Amtsbürgermeister Jürging hatte die Erlaubnis gegeben, nachdem engagierte Bürger von der Werther- und Spenger Straße das gefordert hatten. Mit dem Ortsgruppenleiter der NSDAP, Schwabedissen, der die Stadt verteidigen wollte, ist es dabei zu einem heftigen Streit gekommen.
Mit dem Kriegsende war die lange Zeit der Gewalt vorbei. Ich erinnere mich noch gut an einen Vorfall im Frisörgeschäft meines Vaters an der Bielefelder Straße. Es muss etwa 1943 oder 1944 gewesen sein. Mein Vater hatte einen französischen Gefangenen als Gehilfen zugeteilt bekommen. Eines Tages kam plötzlich ein Engeraner Polizeibeamter rein und verprügelte den Gehilfen mit seinem Koppel, weil der angeblich eine Freundin in Steinbeck habe. Dann ging er wieder. Keiner konnte da was machen.
Die französischen Gefangenen waren im Saal der Gaststätte Kleine an der Bielefelder Straße untergebracht, da wo später das Kino war. Erst war es ein Lager für polnische Gefangene, später für französische."
lok-red.enger@neue-westfaelische.de
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