Mindener Tageblatt ,
20.04.2005 :
Gauleiter Alfred Meyer setzte seinem Leben ein Ende / Williger Funktionärstyp: Ranghöchster Repräsentant des NS-Regimes verkroch sich vor alliiertem Vormarsch im hintersten Winkel seines Gaues
Minden/Rinteln (gp). Das Wetter Mitte April 1945 war freundlich, nur nachts war es noch empfindlich kühl. Für die Deutschen westlich der Elbe war der Zweite Weltkrieg vorbei. Amerikaner und Engländer waren bereits in Richtung Berlin unterwegs. Nur im Radio war das "Tausendjährige Reich" noch präsent. Goebbels beschwor unverdrossen den Endsieg. Die letzten Tage und Stunden des Regimes nahmen ihren Lauf.
Von Wilhelm Gerntrup
Der vor kurzem als Kinofilm nachinszenierte "Untergang" spielte sich nicht nur im Betonbunker des Berliner Führerhauptquartiers ab. Überall im Reich sahen sich große und kleine Parteibonzen vor die Frage nach dem Wie (und Ob) des Weiterlebens gestellt. Das Gros der Funktionäre ging auf Tauchstation, einige machten ihrem Leben ein Ende. Zu ihnen gehörte der ranghöchste heimische NS-Repräsentant, der in Münster residierende Gauleiter Dr. Alfred Meyer. Die näheren Umstände und der genaue Zeitpunkt seines Todes liegen bis heute im Dunkeln. Das hat zu zahlreichen Spekulationen geführt. Neuere Forschungen und Zeitzeugenberichte vermitteln ein dramatisches Geschehen. Es spielte sich vor exakt 60 Jahren Mitte April 1945 in den Weserbergen zwischen Rinteln und Hameln ab.
Meyer war 1928 der NSDAP beigetreten. Er machte schnell Karriere. Zeitzeugen schildern den 1891 in Göttingen geborenen Juristen als eher unscheinbaren Funktionärstyp. Er war nicht besonders groß und sein Auftreten nicht besonders eindrucksvoll. Unabhängig davon soll er ein wortgewandter und zuweilen mitreißender Redner gewesen sein. Er war verheiratet und Vater von vier Töchtern.
1930 wurde Meyer Chef des Parteibezirks Emscher-Lippe. Kurz darauf zog er als einer von 107 NSDAP-Abgeordneten in den Reichstag ein. Es entwickelte sich eine enge Verbundenheit zu Hitler. Der "Führer" machte Meyer gleich nach der "Machtergreifung" im Jahre 1933 zum Gauleiter des neu gebildeten, die Länder Lippe und Schaumburg-Lippe einschließenden NSDAP-Gaus Westfalen-Nord. Es folgten Ämter und Funktionen wie "Reichsstatthalter" und "Staatsminister" von Lippe und Schaumburg-Lippe (seit 1933), Führer der lippischen Landesregierung, "Oberpräsident" der Provinz Westfalen (1936) und (seit 1942) "Reichsverteidigungskommissar". 1941 berief Hitler den getreuen Gefolgsmann - parallel zu den bisherigen Aufgaben - zum Stellvertreter von Minister Rosenberg in das "Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete". Das Ressort war im Zuge des Überfalls auf die Sowjetunion eingerichtet worden. Als Vertreter seines Chefs (Rosenberg) nahm Meyer am 20. Januar 1942 an der so genannten "Wannsee-Konferenz" teil, auf der - in Gegenwart Heydrichs, Freislers und Eichmanns - die "Endlösung der Judenfrage" besprochen und festgelegt wurde.
Die starke persönliche Verquickung mit dem Unrechtsregime war es wohl auch, die in Meyer - den nahen "Untergang" vor Augen - den Entschluss zum Selbstmord heranreifen ließ. Zuvor hatte sich der damals 54-Jährige mit der zurückweichenden Front von Münster aus immer mehr in Richtung Osten abgesetzt. In den Tagen nach Ostern (1./2. April) tauchte er im heutigen Landkreis Schaumburg auf - dem äußersten Zipfel seines Gaubezirks. Als letztes "Stabsquartier" diente ein Kindererholungsheim in Obernkirchen. Von dort aus inszenierte Meyer zahlreiche, aus heutiger Sicht sinnlos anmutende Koordinierungsgespräche. Am 4. April wurde er auf dem Kommandostand des fanatischen Rintelner Wehrmachtsbefehlshabers Oberst Picht gesichtet. Dessen Einheit leistete erbitterten Widerstand, wurden jedoch schließlich von den Amerikanern eingekesselt und aufgerieben. Die letzten Schüsse fielen am 11. April 1945 in einem unwegsamen und unübersichtlichen Gelände rund um die hoch über dem Wesertal gelegene Burg Schaumburg. Wo und wie sich Meyer in diesen Tagen aufhielt, ist unklar. Vieles spricht dafür, dass er zum Schluss einsam und gehetzt durch die Wälder irrte.
Ende April 1945 fand ein Holzsammler zu Füßen der Felsenhöhe "Hohenstein" bei Hessisch-Oldendorf eine bereits stark verweste männliche Leiche. Laut Polizeiprotokoll war sie mit einer braunen Stiefelhose bekleidet. Neben dem Körper lagen eine Pistole, eine Art Notizbuch und eine zerbrochene Ampulle. Trotz mehrerer gegenteiliger Darstellungen und Vermutungen geht man heute davon aus, dass es sich bei dem unbekannten Toten um Meyer gehandelt hat. Letzte Sicherheit gibt es nicht. Auch eine später von den Engländern angeordnete Exhumierung brachte keine endgültige Klarheit.
Als Hauptindiz für die Identität Meyers gilt das bei der Leiche aufgefundene, handschriftliche Papier. "Ich schreibe im Dunkeln", ist darin zu lesen. "Das letzte Stück meines Gaues ist heute verloren gegangen. Wir haben Rinteln und die Weser tapfer verteidigt. Im letzten freien Stück meines Gaues nehme ich Abschied vom Führer, dem meine innigsten Wünsche gehören, von Deutschland. Es wird frei werden und nationalsozialistisch bleiben. Ich nehme Abschied von meiner Liebsten, von meinen Lieben. Möchte es ihnen gut ergehen. Ich habe die Freiheitsbewegung aufgebaut. Sie zu führen, fehlt mir die Gesamtheit der physischen Kraft. Die Anstrengungen der letzten Tage haben es bewiesen."
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