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Deister- und Weserzeitung , 15.04.2005 :

Zwangsarbeiter und Deutsche plünderten / Gestohlen wurde, was das Herz begehrte / Rachegefühle nach der langen Leidenszeit

Von Bernhard Gelderblom

Hameln. Plünderungen und Gewalttätigkeiten gegen Deutsche - sie prägen bis heute das Bild, das ein Teil der Hamelner Bevölkerung von den ehemaligen Zwangsarbeitern hat. Es ist kein Zweifel, dass es diese Plünderungen und Übergriffe von Seiten der ehemaligen Zwangsarbeiter gegeben hat. Es heißt sogar, die Amerikaner hätten Hameln mehrere Tage lang den ehemaligen Zwangsarbeitern zur Plünderung freigegeben.

Die Tendenz der zahlreichen Berichte, die es über die Plünderungen der ersten Tage gibt, lastet die Schuld an daran fast ganz den Zwangsarbeitern an. Ein Beispiel dafür ist der Bericht des Ratsherrn und Stadtarchivars Karl Berger. Er schreibt in seiner Chronik des Jahres 1945:

"Ein riesiges Wäschelager befand sich in den Hefe- und Spritwerken am Bahnhof. Es enthielt unter anderem für viele Millionen Reichsmark Bettwäsche für das Heereslazarettwesen. Die Bestände hätten bei einer geordneten Verteilung an die Bevölkerung ausgereicht, um den Wäschebedarf der Einwohner Hamelns mit den später hinzugekommenen Vertriebenen für mehrere Jahre zu decken. Kurz vor dem Eintreffen der Amerikaner hatte die Verwaltungsstelle des Depots den Befehl erhalten, sich mit dem Lager entweder nach Hildesheim abzusetzen, oder die gesamten Wäschevorräte zu vernichten. Beides war jedoch nicht mehr möglich gewesen. Scharen plündernder Ostarbeiter drangen in das Depot ein, fielen über die Wäsche her, warfen alles durcheinander, wobei vieles zertrampelt oder zerrissen wurde und alles was ihr Auge reizte, wurde ballenweise fortgeschleppt."

Einige Zeilen später findet sich bei Berger der Hinweis: "Ein beachtlicher Teil des Wäschedepots blieb ... zunächst noch unangetastet, und wurde erst in den nachfolgenden Tagen von seinen Liebhabern entdeckt. Bei seiner Auflösung blieben auch Einwohner Hamelns und der umliegenden Dörfer nicht unbeteiligt, die oft mit Handkarren, ja sogar mit Pferd und Wagen, angefahren kamen, um, mit Wäsche beladen, wieder zu verschwinden."

Im Unterschied zu Berger zeigt sich der Hamelner Lehrer Johann Viebrock tief beschämt und fassungslos über seine Landsleute. Auch er berichtet von den Plünderungen durch die Zwangsarbeiter, schreibt aber auch: Dem plündernden Gesindel "folgten andere von Gier gepackte Menschen, auch solche, die sich Deutsche nannten. Sie versuchten wohl meistens, aus Beschämung ... ihr Handeln so hinzustellen, als ob es ihre Pflicht gewesen, für die Allgemeinheit möglichst viel zu retten und zu sichern. Die Plünderung griff auf alle Geschäfte in der Stadt über. Als endlich nach geraumer Zeit amerikanische Soldaten erschienen, waren die Läden fast leer."

Den Hamelnern erschienen die "freigelassenen" Zwangsarbeiter als "Plage". Sie nutzten, so wird berichtet, "ihre plötzliche Freilassung dazu, um in allen Teilen des Stadtgebietes zu plündern und Gewalttätigkeiten zu begehen ... Sie drangen in Läden, Wohnungen und Keller ein und stahlen alles, was im Augenblick das Herz begehrte."

Wie aus heiterem Himmel kommt die Plage der Zwangsarbeiterüber die doch tief geprüfte Stadt! Man wundert sich über ihre "Freilassung", ist verunsichert über die große Zahl - es waren etwa 10.000 bis 12.000 - und völlig erstaunt, diese Menschen nun versorgen zu müssen.

Auch nicht ansatzweise findet sich in den Berichten aus dieser Zeit ein Versuch, sich in das Schicksal dieser Menschen hineinzuversetzen. Sie waren nach Deutschland verschleppt worden, um die Kriegsproduktion in Gang zu halten. Sie mussten bis zu ihrer Befreiung vielfach unter menschenunwürdigen Bedingungen in den Lagern des Hamelner Industriegebietes leben. Besonders die Ostarbeiter hatten nicht nur unter extrem langen Arbeitszeiten, einer häufig miserablen Unterbringung und mangelhaften Ernährung, sondern auch unter einem offenen und aggressiven Rassismus zu leiden.

Dass sich bei diesen Menschen Rachegefühle einstellten, wird niemand mit Freude sehen, kann aber auch niemand verdenken. Die Firmen hatten ihren Arbeitskräften aus dem Osten in der Regel keine neue Kleidung gegeben, so dass beispielsweise die Plünderungen von Bekleidungslagern verständlich sind. In den letzten Kriegstagen ruhte dieProduktion in den Fabriken, also mussten die Zwangsarbeiter für ihre Ernährung selber sorgen.

Nach wenigen Tagen sorgte die Besatzungsmacht dafür, dass die ehemaligen Zwangsarbeiter in großen Lagern in der Linsingen- und Scharnhorstkaserne zusammengefasst wurden. Für die Besatzungsmacht zählten zu den Displaced Persons (DPs) "solche Personen, die während des Zweiten Weltkriegs aus ihrer Heimat deportiert oder durch einen Arbeitsvertrag zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen worden waren".

Nun sorgte eine Unterorganisation der UNO für diese Menschen, die "United Nations Relief and Rehabilition Administration" (UNRRA) für die DPs. Während die aus westlichen Ländern stammenden DPs sehr rasch in die Heimat zurückkehrten, zog sich die Rückführung der aus dem Osten stammenden DPs teilweise bis in das Jahr 1947 hin.

Während sich die Briten um die Einrichtung, Bewachung und Verwaltung der DP-Lager kümmerten, war die Versorgung dieser Lager mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Einrichtungsgegenständen die Aufgabe der deutschen Verwaltung. Darüber schrieb der damalige Verwaltungsdirektor Grote: "Bald nach der Besetzung setzten auch die ersten Requisitionen ein (gemeint sind vermutlich Requirierungen, d.Red.). Diese Requisitionen waren für die Ausländer, die in den beiden Kasernen Scharnhorststraße und Süntelstraße untergebracht waren. Es wurde unter anderem innerhalb von ein bis zwei Stunden zu lieferngefordert: eine Schneiderwerkstatt, ausgerüstet mit mehreren Maschinen, eine Schuhmacherwerkstatt mit vier bis fünf Plätzen, eine Friseurstube, ausgerüstet mit den erforderlichen Maschinen, drei bis vier Plätzen, ca. 1.000 Luftschutzbetten, ca. 1.000 Stück Nähnadeln, 500 Stück Glühbirnen 60 Watt. Alles Artikel, die der Zivilbevölkerung zum Teil weggenommen werden mussten."

So plötzlich wie die Befreiung der Zwangsarbeiter und die Plünderungen von Privathäusern, Geschäften, Lebensmittel- und Textillagern kam, so schnell war es damit nach etwa zehn Tagen auch wieder vorüber. Die Bevölkerung musste sich auf die neue Situation unter den Besatzungsmächten einrichten.

Lesen Sie morgen: Lebensmittelschlangen und Brückenprobleme.


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