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Westfälisches Volksblatt / Westfalen-Blatt , 14.04.2005 :

1945 - Paderborn fängt neu an / WV-Serie: Folge 1 / Täglich zum Monte Scherbelino / Wilhelm Nessel und Werner Ewers fuhren auf der Trümmerbahn

Von Andrea Pistorius

Paderborn (WV). Es gab kein Durchkommen auf den Straßen in Paderborn, nachdem alliierte Bomberverbände 1945 die Stadt in ein Ruinenfeld verwandelt hatten. Fußwege waren notdürftig freigeschaufelt worden, und erst als die Trümmerbahnen anfuhren und Schuttberge in Steinbrüche transportierten, konnte der Wiederaufbau beginnen. Wilhelm Nessel, Jahrgang 1922, war dabei.

Als der junge Autoschlosser aus Schlesien im Oktober 1945 in Paderborn eintraf, hatte er einen abenteuerlichen Weg zurück gelegt: ab 1941 Lkw- und Panzerfahrer der Wehrmacht in Afrika und Russland, Lazarettaufenthalte, Dersertation vor Kriegsende von Westpreußen über Ostsee und Elbe in den Westen, kurze Kriegsgefangenschaft, dann Erntehefer in Delbrück-Sudhagen. Im Bahnausbesserungswerk und ab März 1946 bei der Trümmerbahn wurden Männer wie Wilhelm Nessel dringend gesucht: er war handwerklich geschickt und konnte organisieren.

Die Baufirma Wassermann, bei der Nessel unter Vertrag stand, hatte den städtischen Auftrag, das Südviertel zu entrümpeln. "Wir mussten erst mal eine Gleisstrecke freilegen", erinnert sich der heute 82-Jährige. "Dann haben wir Holz aus der Senne geholt, in einem Sägewerk in Borchen geschnitten und die Gleise selbst gebaut." Die Haupttrasse führte vom Bauhof am Turnplatz durch die Winfriedstraße zum Querweg. An der St. Meinolf-Kirche war ein Rangierbahnhof mit Abzweigungen zum Monte Scherbelino und in die Nebenstraßen.

"Wir hatten zwei Loks mit Dieselmotor", erzählt Wilhelm Nessel weiter, "eine zum Ziehen, eine zum Schieben und dazwischen 20 Loren, bei Regenwetter nur 16". Er selbst stand mit einem Bremser im Füherhaus und hatte dafür zu sorgen, dass die PS-starken Motoren liefen. Einer dieser Helfer war der damals 15-jährige Werner Ewers aus Niederntudorf. "Ich wurde überall da eingesetzt, wo einer gebraucht wurde", erinnert sich der Handwerkmeister im Ruhestand. Er musste damals Waggons beladen, Dampfloks anheizen , die Seilzüge des Schaufelbaggers schmieren, Hauswände mauern und im Leokonvikt das Mittagsessen für die Bahntruppe abholen.

"Ich habe in der Zeit viel gelernt", sagt Ewers, was Nessel sofort bestätigt. "Ersatzteile gab es nicht, also habe ich nach Feierabend defekte Teile im Ausbesserungswerk repariert oder neu gegossen." Das ksotete mal eine Schachtel Zigaretten, mal zwei Dutzend unversehrte Backsteine, die er aus den Trümmern aufklaubte.

Morgens war Wilhelm Nessel auch immer der erste auf dem Bauhof, um die Diesel- und Dampflokomotiven startklar zu machen. Wenn er um sechs Uhr eintraf, hatte er schon einen Fußmarsch von Wewer, wo er ein Zimmer gemietet hatte, hinter sich gebracht. Da lagen seine Kollegen in den Baracken auf dem Turnplatz zum Teil noch in den Federn. "Die Verpflegung war gut", erinnert sich der Trümmerräumer, Bauleiter Ernst Köchling habe gut für die Truppe von 30 Mann gesorgt. "Freitags gab's Geld, 50 Reichsmark, und ein halbes Brot."

Die Arbeit war hart, doch er blieb unverletzt. "Wir hatten mal einen unter einer Lore liegen", weiß der Lokführer noch genau. An dem Tag hatten sich vier Anhänger vom Zug losgerissen. "Der Mann lag lange im Krankenhaus, ist aber wieder zu Gange gekommen." Manchmal machte sich das Räumkommando auch einen Spaß. Wenn Nessel sah, dass irgendwo frische Wäsche auf einem Balkon hing, dann ließ er seine Lok schon mal ordentlich qualmen und Funken sprühen.

Nach viereinhalb Jahren war das Südviertel trümmerfrei. Nessel gründete wenig später in Elsen ein Transportunternehmen, das noch heute von einem seiner acht Söhne geleitet wird.


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