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Deister- und Weserzeitung , 12.04.2005 :

Angst bis zum letzten Tag vor der Befreiung / Wie Zwangsarbeiter das Ende des Krieges erlebten / "Überall ist Chaos und es wird geplündert"

Von Bernhard Gelderblom

Hameln. Die Polin Irena Borowska wurde 1940 im Alter von 17 Jahren aus Posen zur Zwangsarbeit nach Bad Pyrmont geschafft. Im August 1944 musste sie zur Domag nach Hameln wechseln und in der Kriegsproduktion arbeiten. Sie lebte dort in den Baracken des Ostarbeiterlagers, in denen getrennt nach Nationen und Geschlecht auf engstem Raum etwa 1.000 Personen untergebracht waren. Die Baracken des Ostarbeiterlagers standen im Bereich Kuhbrücken-/Wallbaumstraße.

Die letzten Tage des Krieges waren für die Zwangsarbeiter eine höchst gefährliche Zeit. In den Baracken waren sie ohne Schutz vor Bombenangriffen und Beschuss. Für Verpflegung mussten sie selber sorgen. Irena Borowska hatte Glück, zusammen mit ihrem späteren Ehemann Roman eine Unterkunft in einem Bunker hinter den Waggonwerken Kaminski zu finden. Aber auch nach dem Einmarsch der Amerikaner hielt die Gefahr für die Zwangsarbeiterinnen noch an. Ihr Bericht zeigt eindrucksvoll, in welcher Sorge und Ungewissheit die Zwangsarbeiter lebten, abgeschnitten von allen Nachrichten und in völliger Unkenntnis der Kriegslage:

"Das Schicksal bereitet uns manchmal seltsame Lebenswege und unerwartete Ereignisse, so wie die folgende Geschichte. Man kann vor seinen Erinnerungen nicht weglaufen. Sie haben in unserem Herzen einen Platz gefunden. Die Zeit heilt zwar die Wunden, aber es bleiben doch die Narben.

Es war der 5. April 1945. Früh am Morgen hörten wir einen Knall. Aus Neugier verließen wir die Baracke. Die Deutschen hatten die Eisenbahnbrücke über die Weser in die Luft gesprengt. Die Brücke stand nicht weit von unserer Baracke entfernt. Wir konnten nach allen Seiten schauen; der Schaden war gewaltig. Was hatte dies zu bedeuten? Müssen wir Angst um unser Leben haben oder bedeutet es, dass der Krieg bald zu Ende geht und wir gerettet sind?

Kurze Zeit nach der Sprengung kamen die Freunde von Mija und Irena. Sie sagten, wir sollten unsere Sachen packen und die Baracken der Domag verlassen. Aber wohin sollten wir gehen? Das wussten sie auch nicht. Wir mussten uns einen Schutz suchen, weil die Front nahte. Mija und Irena wollten mich mitnehmen, aber ich sagte: 'Ich gehe nicht mit, ich warte auf meinen Roman.' Ich bat sie aber darum, mir einige Lebensmittel zurück zu lassen. Die beiden haben sich verabschiedet und sind gegangen.

Es war gut, dass ich blieb, denn kurz danach kamen Roman und seine Freunde. Sie hatten gute Nachrichten. Roman sagte: 'Der Bahnhof in Hameln ist bombardiert worden, es fahren keine Züge mehr. Von Süd-Westen her kommen die Amerikaner. Wir haben erfahren, dass es hinter der Fabrik von Kaminski einen Luftschutzkeller gibt. Dorthin wollen wir gehen. Wir glauben, dort wird es sicherer sein. Wer will, kann mit uns gehen. In einer Gruppe ist es immer besser.' Als wir dort ankamen, saßen da schon Leute, die bei Kaminski arbeiteten.

Am nächsten Tag ging Roman mit zwei seiner Kollegen raus, um sich zu überzeugen, ob wir wirklich an einem sicheren Ort waren. Das war sehr gewagt. Sie gingen in die Richtung, wo sie hofften, auf amerikanische Soldaten zu treffen. Durch Zufall und Glück sind sie amerikanischen Soldaten im nächsten Dorf (gemeint ist Tündern) begegnet. Einer der Soldaten sprach polnisch. Roman und seine Kollegen erfuhren, dass die Hauptfront der Amerikaner in Richtung Berlin weiter gezogen war. Die im Dorfe gebliebenen Soldaten sollten Hameln einnehmen. Sie planten nur einen leichten Angriff, weil sie wussten, dass die Stadt nicht stark verteidigt wurde. Sie wollten so lange warten, bis die Stadtbevölkerung weiße Fahnen aus den Fenstern hängen würde.

Die Amerikaner haben unseren Männern versichert, dass der Luftschutzkeller, wo wir uns versteckt hatten, außerhalb des geplanten Einmarschweges lag und dass keine Gefahr für uns bestand. Würden wir dann weiße Fahnen sehen, dann bedeutete dies das Ende des Krieges. Dann könnten wir uns frei und sicher fühlen.

Roman und seine Kollegen nahmen auf dem Rückweg etwas Essbares aus den verlassenen Häusern mit. Auf jeden Fall haben wir uns auf das nahe Ende des Krieges und unserer Gefangenschaft gefreut. Und wir hatten zu essen. Aber was sollten wir tun, um unseren Durst zu löschen? Wir mussten etwas sehr Gefährliches tun. Meine Freundin Helenka und ich machten uns auf den Weg zu den etwa 500 Meter entfernten Baracken der Domag. Weil wir ganz nah Schüsse hörten, rannten wir voller Angst. In den Baracken trafen wir einige unserer Bekannten. Mit einem Wasservorrat und unseren Bekannten sind wir dann zum Schutzkeller zurück gerannt.

Oft schauten wir nach weißen Fahnen. Zwei Tage lang warteten wir auf den Moment der Befreiung. Die amerikanische Strategie war nicht, die Stadt mit Gewalt zu erobern. Für sie war das Leben eines jeden Soldaten wichtig. Nach langem, man könnte sagen, nach unendlichem Warten nahmen die Amerikaner die Stadt ein. Wir konnten unseren Schutzkeller verlassen und wieder in den Baracken wohnen.

Kurz danach machten Roman und sein Kollege sich auf den Weg, um die Situation in der Stadt nach dem Einmarsch der Amerikaner zu erkunden. Nachdem sie zurück waren, hat Roman angefangen zu erzählen: 'Ihr könnt euch nicht vorstellen, was sich in der Stadt abspielt. Es sind so genannte gesetzlose Tage. Die Menschen nehmen aus den Lebensmittellagern alles weg, was übrig geblieben ist. Wir haben auch etwas genommen. Auf dem Bahnhof liegen Koffer undandere Gegenstände herum. Überall ist Chaos und es wird geplündert. Ich denke aber, dass die Amerikaner dieses Chaos wieder in den Griff bekommen werden.'

Eines Abends, als wir schon im Bett lagen, kam ein amerikanischer Soldat in unsere Baracke. Wir merkten sofort, dass er betrunken war. Als er sah, dass Männer anwesend waren, schoss er vor Wut in die Decke. Zum Glück hörten dies andere Männer und kamen uns zu Hilfe. Sie beruhigten den Mann und brachten ihn zu seiner Einheit zurück. Am nächsten Tag kamen einige Amerikaner, um sich für den Vorfall zu entschuldigen.

Nach diesem Vorfall wollten wir weg aus der Baracke. Da kam die Nachrichtüber das endgültige Kriegsende. Unter dem Druck der Armeen hatten die Deutschen kapituliert. Am 8 Mai 1945 fand ein Treffen in Berlin statt. Unter anderen Flaggen wurde auch die polnische gezeigt."

Lesen Sie morgen: Eine Bibliothek wird gerettet.


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