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Deister- und Weserzeitung , 11.04.2005 :

Und plötzlich stehen die Amerikaner vor der Tür / Die Befreiung des Zuchthauses von Hameln / Viele Gefangene sterben noch an Ruhr und Typhus

Von Bernhard Gelderblom

Hameln. Während für die Bevölkerung Hamelns die Besetzung der Stadt durch amerikanische Soldaten eine Zeit größter Unsicherheit eröffnete, erlebten die Häftlinge des Zuchthauses diesen Tag als Befreiung. Der folgende Bericht stammt von dem Lehrer Hans Bielefeld. Bielefeld wurde 1941 wegen seiner Homosexualität zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Zuchthaus Hameln erlebt er das Chaos der letzten Monate. Er ist mit seinem Buch "Durch das dunkelste Abendland" ein getreuer Chronist der entsetzlichen Zustände im Hamelner Zuchthaus gegen Kriegsende.

Nach dem Krieg bleibt Bielefeld in Hameln, lebt in der Mühlenstraße und gibt Nachhilfeunterricht. Eine Tätigkeit in seinem Beruf als Lehrer ist ihm verwehrt, weil er wegen seiner Homosexualität als vorbestraft gilt. Bielefeld schreibt über die letzten Tage im Zuchthaus:

"Bleiern kommt der Morgen herauf. Die Kellertür steht offen. Kein Beamter davor und kein rasselndes Schlüsselbund. Wir sind so eingeschüchtert, wir wagen uns kaum heraus. Wir sind nicht mehr gewohnt, allein zu gehen, ohne Aufsicht zu sein.

Auf der Flussuferseite hat eine Granate ein großes Loch in die Außenmauer gerissen. Alle Türen und Tore sind offen. Gegen 9 Uhr übernimmt eine amerikanische Einheit das Anstaltsgelände und stellt eine Wache an die Außenpforte. Die Küche arbeitet wieder. Das Brot aus der Arrestzelle wird befreit und verteilt. Drei Mann übernehmen die Kammer und geben Zivilzeug aus. Und das alles geschieht mit einer Disziplin, die man diesem zusammengewürfelten Haufen von Hungernden, Frierenden, Verzweifelnden kaum zugetraut hätte. Viele von uns sterben in den folgenden Tagen noch an Typhus und Ruhr. Es fehlt an Medikamenten.

Der amerikanische Polizeioffizier prüft gewissenhaft die Akten jedes einzelnen An stalts insassen. Zuerst werden sämtliche Ausländer entlassen und von der UNRRA übernommen. Dann folgen die Deutschen. Von jedem einzelnen wird genau ermittelt, wie viel Strafzeit er hatte und wann die Strafzeit beendet war oder ist. Nur solche Gefangene, die wegen schwerer Eigentums- oder Körperdelikte verurteilt wurden und noch eine lange Strafzeit haben, werden festgehalten. Aber viele sind gar nicht transportfähig. Sie würden in der ungewohnten Freiheit auf ihrem Weg in die Heimat quer durch das Kampfgebiet umkommen.

Es ist ein sonnenüberstrahlter Apriltag des Jahres 1945. Sechs Tage nach der Übergabe der Stadt. Da schließt sich hinter mir die dunkle Pforte. Noch ist Krieg, noch ist das Leiden tausendfach um uns her. Aber das warme Sonnenlicht fällt mächtig durch die Zweige der alten Bäume am Wall. Ich gehe durch die alten, lieben Straßen wie im Traum. Vor mir liegt der helle Tag."

Etwa 400 Insassen des Zuchthauses Hameln waren am 5. April, an dem Tag, als der Beschuss der Stadt begann, auf einen Todesmarsch in das Zuchthausaußenlager Holzen bei Eschershausen geschickt worden. Die Männer verbringen dort zwei Tage in großer Ungewissheit. Wird die Rache der SS die Häftlinge noch erreichen?

Der Niederländer Derk Heero Schortinghuis berichtet: "7. April, der große Tag, der Tag der Befreiung. Der Tag, dem wir uns fünf Jahre hintereinander jeden Tag um einen Tag näherten.

Gegen drei Uhr wird plötzlich laut in die Baracke hinein geschrieen: 'Le drapeau blanc, le drapeau blanc' - die weiße Fahne. Ich schieße aus meinem Bett heraus. Draußen steht eine Menge, gestikuliert und redet wild durcheinander in allen Sprachen Europas - eine babylonische Sprachenverwirrung!

Und ja, da hängt es, oben am Flaggenmast, ein Bettlaken. Es flattert im Wind, ab und zu knallt es kurz. So ein dummes, ganz normales und ganz weißes Bettlaken. Oben, ganz hoch an der Spitze des Flaggenmastes - und da sind mächtige Flecken aus reinem Blau am Himmel inmitten von glänzenden Wolken - flattert es und spricht seine Sprache.

Wir rennen zum Tor, das wer weiß wie lange schon lang und breit offen steht. Sie stehen auf dem Betonweg vor der Verwaltungsbaracke. Dies sind nun die Amerikaner. USA. Jeeps, große und kleine Gefechtswagen, Lastautos und darin die Kerle, die besten der ganzen Welt, unsere Befreier, lachend und geschoren und Kaugummi kauend undmit Zigaretten zwischen den Fingern und in ganz einfachen Uniformen."

Schortinghuis hatüber seine Tätigkeit als Widerstandskämpfer in den Niederlanden, seine Verurteilung und die Zeit in deutschen Zuchthäusern ein eindrucksvolles Buch geschrieben: "Met de dood vor ogen" (Den Tod vor Augen), das leider nur in holländischer Sprache vorliegt.

Lesen Sie morgen: Die Befreiung der Zwangsarbeiter.


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