Schaumburger Zeitung ,
11.04.2005 :
"Wir müssen die Kunst der Freiheit verstehen" / Christliche Gemeinden erinnern an das Kriegsende / Zeitzeugen und Geschichtswerkstatt berichten
Von Johannes Pietsch
Bückeburg. Gemeinsam haben Christen der Evangelisch-Lutherischen, der Katholischen sowie der Evangelisch-Reformierten Kirchengemeinden des Kriegsendes in Bückeburg vor 60 Jahren gedacht. In dem zweistündigen ökumenischen Gottesdienst, den Pastor Ingo Röder, Pfarrer Matthias Ziemens sowie Hans Faudt als Vertreter der Evangelisch-reformierten Gemeinde gestalteten, wurde in Augen- und Zeitzeugenberichten an den Einmarsch der Amerikaner in Bückeburgvor 60 Jahren erinnert. Zu Wort kamen außerdem Bürgermeisterin Edeltraut Müller und André Bonthuis, das Oberhaupt der niederländischen Partnerstadt Nieuwerkerk.
Die heute 87-jährige Bückeburgerin Lieselotte Öttking berichtete, wie noch wenige Tage vor dem Kriegsende längs der Georgstraße tiefe Löcher ausgehoben wurden, in denen Soldaten mit Panzerfäusten auf die heranrückenden amerikanischen Panzer warteten. Die Nacht zum 8. April verbrachte sie bei den Schwiegereltern ihrer Schwester, da das eigene Haus nicht mehr sicher erschien. Am nächsten Vormittag fand sie ihr Haus bereits von den Amerikanern durchsucht vor. In den nächsten Tagen durchkämmten die Amerikaner die ganze Stadt nach versteckten deutschen Soldaten. Ihr Schwager, der sich kurz zuvor in bäuerlicher Zivilkleidung nach Hause durchgeschlagen hatte, konnte sich nur durch Vortäuschung einer Behinderung der Verhaftung entziehen. Auch der Schwiegervater ihrer Schwester, der am Tages des Einmarsches im Rathaus verhaftet worden war, kam bald wieder frei: "So haben wir das Kriegsende recht glimpflichüberstanden."
Pastor Martin Runge (74), der damals bei seinem Ziehgroßvater in Bückeburg lebte, sollte eigentlich am 8. April in der Stadtkirche konfirmiert werden, war jedoch am Ostermontag des Jahres 1945 zur Wehrmacht eingezogen worden. Beim Anblick einer Kolonne russischer Kriegsgefangener, die von einem Mitschüler vom Gymnasium Adolfinum bewacht wurden, habeihn das Grauen gepackt: Martin Runge floh von der Truppe und kehrte im Schutz der Nacht nach Hause zurück. Dort beobachtete er am Morgen des 8. April mit einem Feldstecher einen amerikanischen Panzer. Dessen Besatzung bemerkte den 14-Jährigen und vermutete einen gegnerischen Artillerieposten, verzichtete aber auf einen gezielten Beschuss und begnügte sich damit, dem Jungen den Feldstecher abzunehmen: "So habe ich meinen Feldstecher verloren, aber das Leben gewonnen." Konfirmiert wurde Martin Runge dann von seinem Großvater, einem pensionierten Pastor, im heimischen Wohnzimmer.
Marco Meier (15), Schüler der 10. Klasse der Herderschule Bückeburg, arbeitete im Rahmen der von Lehrer Klaus Maiwald geleiteten Geschichtswerkstatt das Schicksal der Zwangsarbeiter in Schaumburg während des Dritten Reiches auf. Er zitierte aus dem Brief einer heute 84-jährigen Russin, die 1942 von deutschen Truppen aus ihrem Heimatdorf verschleppt wurde und in Bückeburg bei der Firma Gemac zur Zwangsarbeit eingesetzt wurde. 12 Stunden am Tag musste sie Schwerarbeit verrichten, untergebracht war sie unter menschenunwürdigsten Umständen mit mehr als 50 Leidensgenossen in einer Baracke. 5237 Zwangsarbeiter seien während des zweiten Weltkriegs beim Arbeitsamt Stadthagen gemeldet gewesen, berichtete Klaus Maiwald. Über 1000 von ihnen kamen während des Krieges um.
In einer spontanen Stellungnahme erinnerte derüber 80-jährige Walter Sieg aus Rodenberg an die Vertreibung aus Ostpreußen und berichtete von den vielen freundschaftlichen Kontakten, die heute mit der polnischen Bevölkerung beständen.
"Dieses dunkelste Kapitel deutscher Geschichte geht uns alle an, auch die, die nach 1945 geboren wurden", erklärte Bürgermeisterin Edeltraut Müller. Aus den Bedingungen der Globalisierung erwachse dabei neue Verantwortung, sich für Frieden und Gerechtigkeit einzusetzen.
Ihr Amtskollege aus Nieuwerkerk, André Bonthuis, der den Krieg als Kind erlebte, fügte hinzu: "Auch nach 60 Jahren ist die Freiheit eine Kunst. Es ist an uns zu beweisen, dass wir diese Kunst verstehen." Musikalisch umrahmt wurde der Gottesdienst von Kantor Siebelt Meier an der Orgel und Flötistin Anastasia Alfiorowa. Die 24-jährige Musikstudentin aus Königsberg kam 1995 im Zuge eines Schüleraustausches erstmals nach Bückeburg, inzwischen studiert sie in Hannover.
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