Deister- und Weserzeitung ,
09.04.2005 :
Blutjustiz noch in den letzten Kriegstagen / Standrechtsfälle und "wilde" Erschießungen / Der Mord am Landwirt Beißner aus Fischbeck
Von Bernhard Gelderblom
Hameln. Das Ende des Deutschen Reiches kam am 8. Mai. Aber der Prozess des Zusammenbruchs erstreckte sich über Monate und war zuletzt von blutiger Zerstörung und von Terror begleitet. Seit Oktober 1944 wurde die Heimat zur Front. Die letzten Monaten vor Kriegsende brachten eine letzte Steigerung des Schreckens. Unter militärischem Gesichtspunkt fand keine sinnvolle Verteidigung statt, sondern ein irrationaler, von blindem Fanatismus geprägter "Volkskrieg". Hitlers Befehl, dem Feind verbrannte Erde zu hinterlassen, richtete sich in Wahrheit gegen sein eigenes Volk.
Unmittelbar vor dem Einmarsch der Alliierten wüteten Denunziantentum und Blutjustiz. Jede Form der Auflehnung oder offener Ablehnung war gerade in den letzten Monaten lebensgefährlich. Je mehr die Kontrolle schwand, desto brutaler reagierte der Terrorapparat.
Offener Terror gegen "Defätisten" und "Drückeberger" sollte Angst und Schrecken verbreiten. Die Wehrmacht richtete Standgerichte ein. Selbsternannte Erschießungskommandos gingen gegen angebliche Defätisten und Saboteure vor. Die Organisation "Werwolf" sollte hinter den feindlichen Linien Widerstand und Terror fortsetzen. Die letzten Kriegsmonate forderten unter der Bevölkerung und den Soldaten die meisten Opfer.
Der Werwolf, der sich aus Parteimännern und Hitlerjungen rekrutierte, sollte hinter der Front einen Guerillakrieg gegen die Besatzer und gegen angebliche Saboteure unter der deutschen Bevölkerung führen. Dass es ihn tatsächlich gab, zeigt das folgende Beispiel des Mordes an einem Zivilisten aus dem Dorf Fischbeck am 5./6. April 1945.
Nach dem Krieg wurde zwischen Hameln und Fischbeck eine Leiche gefunden. Es handelte sich um den Landwirt Ferdinand Beißner aus Fischbeck. Beißner war am Kriegsende durch Genickschuss zu Tode gekommen.
Am 4. April verbreitete sich in Fischbeck das Gerücht, das Dorf sollte verteidigt und binnen einer Stunde von der Bevölkerung geräumt werden. Daraufhin gab es vor dem deutschen Gefechtsstand Tumulte. Die Einwohner versuchten den Kommandanten von der Verteidigung ihres Ortes abzubringen.
Unter der Menge war ein Mann namens Beißner, der besonders heftig rebelliert haben soll. Der Kampfkommandant hatte vergeblich versucht, Beißner festnehmen zu lassen; Dorfbewohner stellten sich vor ihn. Doch am Abend des 5. April wurde Beißner gegen 23 Uhr von zwei Soldaten aus seiner Wohnung abgeholt und in Arrest genommen.
In der Nacht kam dann eine Streife von Hameln nach Fischbeck, um die rebellischen Einwohner des Ortes zu bestrafen. An dieser Streife sollen vier bis sechs Personen aus Hameln beteiligt gewesen sein, ein Jugendlicher, zwei Kripo-Beamte, die als Werwölfe auftraten, und Mitglieder des Volkssturmes. Auf dem nächtlichen Weg nach Fischbeck schoss die Streife auch auf den Gastwirt August Diekmann, der das Pech hatte, die Parole nicht zu kennen. Diekmann starb an seinen Verletzungen. Die Streife entführte Beißner dann aus dem Gewahrsam des Militärs nach Hameln, wo er unter ungeklärten Umständen erschossen wurde. Die kleine, fanatisierte Gruppe aus Volkssturm und Werwolf handelte völlig eigenmächtig, um den Verfall der Autorität des Regimes durch Terror aufzuhalten.
In einem Prozess, der 1955 vor dem Landgericht in Hannover stattfand, versuchten die angeklagten Mitglieder der Streife die Schuld am Mord auf die Wehrmacht zu schieben. Beißner sei auf Grund eines Standgerichtsurteils der Wehrmacht erschossen worden. Der als Zeuge geladene Offizier widersprach vehement und offensichtlich zu Recht. Nur aus Mangel an Beweisen sprach das Gericht die Angeklagten, darunter der Hamelner Kreispropagandaleiter Brodhage, frei.
Der Lemgoer Bürgermeister Wilhelm Gräfer war am 4. April durch die dünnen deutschen Linien den Amerikanern entgegengefahren und hatte die Übergabe seiner Stadt angeboten. Die Amerikaner sicherten ihm eine halbstündige Feuerpause zu. In dieser Zeit sollte Gräfer zurückfahren, die Übergabe in die Wege leiten, dann erneut zu den Amerikanern fahren und einen deutschen Offizier mitbringen, der für den Abzug einiger Flakstellungen am Stadtrand zu bürgen hatte.
Zurück in Lemgo wurde Gräfer jedoch vom Stadtkommandanten festgenommen ("Sie haben mit den Feinden verhandelt; das kostet ihren Kopf!"). Es kam in Lügde zu einer Kriegsgerichtsverhandlung, bei der Gräfer nicht einmal einen Verteidiger hatte. Auf dem Weg von Lemgo nach Lügde konnte Gräfer seinen Häschern vor Barntrup entkommen, wurde aber rasch wieder von einem ihn verfolgenden Soldaten eingefangen. Wegen Landesverrat und weil er als Zivilist in eine militärische Operation eingegriffen habe, wurde Gräfer zum Tode verurteilt. In der Nacht wurde Gräfer wegen der heranrückenden amerikanischen Truppen von Lügde nach Bodenwerder verschleppt und am frühen Morgen des 5. April auf dem Marktplatz der Münchhausenstadt von Soldaten und SS-Männern zusammengeschlagen, erschossen und anschließend an einer Linde vor der Kirche aufgehängt. Die Stadt Lemgo ließ zum Gedenken an ihren Bürgermeister eine Tafel in Bodenwerder mit folgender Inschrift anbringen:
"Bürgermeister Wilhelm Gräfer, Lemgo, 8. Oktober 1885 - 5. April 1945, wurde an dieser Stelle unschuldig hingerichtet.
Er opferte sein Leben für unsere Stadt.
Alte Hansestadt Lemgo."
Gräfer war übrigens Nationalsozialist und bemühte sich trotzdem, seine Stadt vor der Zerstörung zu retten.
Der Wirt der Gastwirtschaft "Zum Auetal" in Rehren, Wilhelm Schlüter, äußerte sich am 3. April 1945 gegenüber Angehörigen der auf dem Rückzug befindlichen 116. Panzerdivision ("Windhunddivision") in seinem Lokal abfällig über das nationalsozialistische Regime. Unter anderem sagte er, man hätte auf die Männer des 20. Juli 1944 hören sollen, dann wäre der Bevölkerung vieles erspart geblieben. Daraufhin verurteilte ihn ein Standgericht zum Tode. Er wurde unter die Autobahnbrücke geführt und dort am 4. April erschossen.
Der Gedenkstein für Schlüter unter der Autobahnbrücke mit einem daneben aufgemalten großen Kreuz wurde auf Veranlassung eines Rehrener Bürgers geschaffen.
Lesen Sie am Montag: Das Zuchthaus wird befreit.
09./10.04.2005
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