Deister- und Weserzeitung ,
05.04.2005 :
Serie 60 Jahre Kriegsende / "Niemand schaute wegen der Niederlage unglücklich in die Welt" / Das Kriegsende in Bad Pyrmont - erinnert von Mary Friedrich / Quäkerin verzeichnete in ihrem Tagebuch die Ereignisse am 5. April 1945
Von Ulrike Truchseß
Bad Pyrmont. Das damals zur Lazarettstadt umfunktionierte Bad Pyrmont wurde am 5. April 1945 von den amerikanischen Kampftruppen eingenommen. Die Quäkerin Mary Friedrich berichtet über diese Tage in ihren Aufzeichnungen. Am 29. März 1945 schreibt sie in ihr Tagebuch: "Über der Stadt liegt eine Panikstimmung. Es heißt, die Alliierten stünden 30 Kilometer vor Kassel und in Paderborn. 50 Kilometer vor Bad Pyrmont würde schwer gekämpft. Ich habe gesehen, wie in der Stadt die Rotkreuzflagge gehisst wurde. Willi Tangermann (Sozialdemokrat und Quäker) bat mich in sein Büro. Er bat mich, mich auf ein Treffen mit den amerikanischen Militärbefehlshabern vorzubereiten, wenn diese hier eintreffen. Um Kämpfe um die Stadt zu vermeiden, will Pyrmont sich zur Lazarettstadt erklären. Ich sagte ihm, dass ich dazu natürlich bereit wäre, wenn man mir versichern würde, dass die Gründe echt sind."
Und weiter schreibt sie am selben Tag: "Alle Männer werden zum Volkssturm einberufen. Selbst unser Vermieter, 65 Jahre alt. Mein Untermieter Rohrmann wurde aufgerufen nach Lügde zu gehen, wo er die Sprengung der Brücke über die Emmer vorbereiten sollte."
Die nächste Eintragung ist auf den 5. April datiert. "In der Zwischenzeit konnten die Leute im Rathaus sich nicht entscheiden, was zu tun sei. Seebohm, seit 1. April zwar im Ruhestand, aber als kommissarischer Bürgermeister und Volkssturm-Befehlshaber eingesetzt, war dafür, sich zu ergeben. Sein Stellvertreter, Ortsgruppenleiter der NSDAP, Ahrens wollte aber bis zum letzten Mann kämpfen und, wie geplant, die Brücken sprengen. Dr. Glaser jedoch, der Leitende Arzt der Lazarettstadt, wollte, dass die Stadt sich ergibt, und als Lazarettstadt kenntlich macht. Ein junger Obergefreiter, der dem allen zuhörte, während die Minuten verstrichen, nahm die Entscheidung schließlich selbst in die Hand. Er stieg auf sein Rad, jagte den amerikanischen Truppen bis zur Hagener Straße in Holzhausen entgegen, schwenkte ein weißes Tuch und rief: ,We surrender' (wir ergeben uns). Ein paar Minuten späterkamen die Amerikaner zum Brunnenplatz, wo sie Dr. Glaser trafen, der sie schon erwartete. Kaum war das geschehen, konnten sich die Menschen wieder frei in den Straßen bewegen. Um drei Uhr entschloss ich mich, auch in die Stadt zu gehen. Niemand schaute wegen der Niederlage unglücklich in die Welt."
Ein amerikanischer Offizier der abends bei den Untermietern von Mary Friedrich zu Gast gewesen war, sei völlig erschöpft gewesen. Er hatte sechs Nächte nicht mehr geschlafen. "Die Ergebnisse nach der Einnahme der SS-Kaserne in Detmold hatten ihn offenbar sehr schockiert: Von den 900 Männern und Frauen, die dort waren, überlebten nur 15. Er kam nicht darüber hinweg, dass er auf ein Fahrzeug feuern musste, in dem 20 SS-Frauen saßen, die alle getötet wurden."
Am 10. April schreibt sie: "Ich habe mich mit Otto Buchinger beraten und bin danach zu Willy Tangermann gegangen, der inzwischen, weil er Sozialdemokrat und nie Nazi war, als stellvertretender Bürgermeister eingesetzt worden ist. Sie waren mit mir der Meinung, dass ich mich an den amerikanischen Kommandanten wenden und ihn bitten sollte, keine weiteren Patienten ins Quäkerhaus einzuweisen und uns das Gebäude wiederzugeben. Der war sehr interessiert und freundlich und meinte, den Amerikanern sei daran gelegen, in allen religiösen Gebäuden wieder regelmäßig Gottesdienste stattfinden zu lassen."
In dem Buch "Ein Quäker-Ehepaar in Nazi-Deutschland" dokumentiert Mary Friedirchs Tochter Brenda Bailey auch, ihre Mutter habe am selben Tag gehört, wie es einigen ortsansässigen Nazis ergangen war. Ahrens, der Kreisleiter der NSDAP, hatte sich danach freiwillig gestellt. Der Polizeibeamte Wenger und Seebohm, der ehemalige kommissarische Bürgermeister, seien nach Altenbeken ins Gefängnis gekommen. Einige der örtlichen Naziführer hätten sich und teilweise sogar ihre Familien umgebracht. In Pyrmont seien am 15. April mehr als 600 amerikanische und britische Soldaten stationiert gewesen. Am 20. Mai 1945 kehrte Mary Friedrichs Ehemann Leonhard mit verlausten, rot-gestreiften Buchenwaldkleidern nach Pyrmont zurück. "Wir haben die Kleider im Garten verbrannt." Beide baten Bürgermeister Mogk, ihnen ihr Haus wieder zur Verfügung zu stellen. Und am 6. Juli bestätigt sie, was die Internistin Ilse Göddeals Zeitzeugin berichtet: "Einige Freunde die uns besuchen wollten, wurden nicht nach Bad Pyrmont durchgelassen, weil hier im Augenblick eine Polio-Epidemie grassiert."
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