Deister- und Weserzeitung ,
05.04.2005 :
Der Todesmarsch der Zuchthaus-Häftlinge ins Außenlager Hecht / 400 Mann aus zwölf Nationen - sie sollten dem Gegner nicht in die Hände fallen / In den Dörfern gab es auch helfende Hände
Von Bernhard Gelderblom
Hameln. Kurz vor der Einnahme Hamelns durch US-Truppen kam es im Zuchthaus zu einem Geschehen, das noch einmal besondere Leiden und zahlreiche Todesopfer forderte. Im Januar 1945 hatte das NS-Justizministerium verfügt, dass ausländische und politische Häftlinge auf keinen Fall dem Gegner in die Hände fallen dürften. Was aber, wenn für ihre Evakuierung die Zeit oder die Transportmittel fehlten? In diesem Falle sollten die Häftlinge erschossen und die Spuren der Tat beseitigt werden. In Hameln weigerte sich der Direktor des Zuchthauses, den Mordbefehl auszuführen und schickte stattdessen etwa 400 Männer am Morgen des 5. April - dem Tag, als frühmorgens die Brücken gesprengt wurden und die Amerikaner mit der Beschießung Hamelns begannen - auf einen Evakuierungsmarsch.
Ziel war das etwa 40 Kilometer südöstlich von Hameln gelegene Außenlager Hecht des Zuchthauses in Holzen bei Eschershausen. Die Kolonne bestand überwiegend aus Ausländern. Begleitet wurde sie von bewaffneten Wachtmeistern. Der Weg führte zunächst durch das Hamelner Industriegebiet. Zwei flüchtende Italiener wurden hier erschossen. Weiter ging es auf der Reichsstraße 1 in Richtung Hildesheim und dann auf Nebenstraßen durch die Dörfer entlang des Ith südwärts nach Holzen. Etwa 40 Todesopfer dürfte der Marsch der Häftlinge gefordert haben. Es war ein Todesmarsch.
Über diesen Tag berichtet der Holländer Derk Heero Schortinghuis: "Die Hoffnung stimmte wohlgemut. Alles ging dem Ende zu. Gleichzeitig fühlten wir, dass die letzten Augenblicke auch die gefährlichsten waren. Aus welcher Ecke würde die Wut der SS oder anderer Instanzen uns noch treffen können?
So vergeht der Tag bis ungefähr um zwölf. Der Himmel bezieht sich und ein feiner Nieselregen, der einen im Handumdrehen durchnässt, setzt ein. Unsere Füße werden zu bleiernen Lehmklumpen. Die Welt, in der wir unseren trostlosen Marsch fortsetzen, wird ganz klein. Und wir wissen, dass wir nichts anderes tun können als weiter zu laufen, noch ungefähr 30 km.
Dann beginnt das Elend. Die Schwächeren unter uns können schon nicht mehr. Das ist nicht erstaunlich. Wer die ausgezehrten, eiternden und verlausten Körper der Truppe gesehen hätte, wäre verwundert gewesen, dass man damit noch 15 km laufen kann. Und bei zwei dünnen Brotschnitten läuft ein gesunder Mensch schon nicht mehr weit. Die Menschen halten nicht mehr Schritt und drohen zurückzubleiben. Die Kameraden nehmen sie so gut wie möglich zwischen sich, und so geht es wieder etwas weiter.
Ein Wachtmeister, der den Schluss der Kolonne bildet, sorgt dafür, dass es keine Nachzügler gibt! Mit Gewehrkolbenschlägen werden die Schwachen weiter getrieben. Dabei wird versichert, dass derjenige, der zurückbleibt, totgeschossen wird.
Dies ist nicht nur eine Drohung. Es lagen in der Tat Leichen entlang der Straße, teils unverletzt, teils mit Kugeleinschüssen. In einem Dorf scheint es einen Augenblick lang gefährlich zu werden. Ich höre von jemandem, dass die SS den Befehl gegeben hat, alles niederzuschießen, wenn ein Weiterkommen nicht mehr möglich ist.
Als wir durch ein Dorf zogen, ging plötzlich ein Fenster auf und mir wurden drei Pellkartoffeln in die Hand gedrückt. Etwas weiter waren drei junge Frauen damit beschäftigt, alle Milch, die sie hatten, unter dem Motto abzugeben: ,Sonst trinken die Amerikaner doch alles aus!' Immer wieder wurden die Gefangenen aber auch von Überzeugten oder Ängstlichen vom Grundstück gejagt, schlossen sich Türen und Fenster vor den Bittenden.
Am frühen Nachmittag war die Kolonne so weit auseinander gezogen, dass ihr Ende bereits ohne Bewachung war. Einige Männer versuchten, in leer stehenden Scheunen unterzutauchen. Der Marsch ging in die Nacht hinein.
Und so gehen wir weiter, Kilometer für Kilometer. Wegen des Regens ist die Landschaft die trübste aller Landschaften. Die Dunkelheit bricht ein. Auch wir werden stiller und sehen zu, dass wir vorwärts kommen.
Wir gehenüber eine Brücke, über einen plätschernden Bergbach. Wir stolpern in der Dunkelheit vorwärts, unbekannte Wege entlang, zu einem unbekannten Ziel. Und dann in der Dunkelheit träumende Gedanken: Hier marschiert ein gequältes und heimgesuchtes Europa. Wir hören unsere Schicksalsgenossenum uns herum reden. Niederländer, Belgier, Luxemburger, Franzosen, Deutsche, Tschechen, Italiener, Serben, Polen, Russen, Litauer und Norweger. Vierhundert Mann, zwölf Nationen. Sonst wird gewöhnlich von jedem so ein bisschen Deutsch gesprochen, aber nun in der Dunkelheit sucht jeder sein Volk, und die eigene Sprache wirdgebraucht.
Wir passieren ein unleserliches Ortsschild. Noch acht Kilometer, sagen Kenner. Wir kommen durch Holzen. Nun noch fünf. Es geht bergauf. Der Regen fällt noch immer, und die Bäume tropfen. Vor uns stolpern dunkle Rücken. Dieser Tag wird uns nicht mehr die Freiheit bringen. Wenn er uns nur zum Endziel bringt, dem Lager Hecht, mit einem Dach über dem Kopf, dann ist es schon mehr als gut.
Das Lager ... Am Eingang brennt ein kleines Licht. Wir gehen hinein. Baracke 3 B wird dort gerufen. Noch einmal eine Abquälerei durch einen Schlammbrei, wie es ihn nirgendwo anders gibt, dann sind wir zu Hause. Das Ziel ist erreicht. Wieder einen Tag näher an der Befreiung."
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