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Lippische Landes-Zeitung , 05.04.2005 :

Begegnung mit dem Grauen aus erster Hand / Fünf Zeitzeugen lassen Barntruper Gymnasiasten an ihren Kriegserinnerungen teilhaben

Barntrup (an). "Man kommt sich ein bisschen seltsam vor, wenn man hier als Zeitzeuge auftritt." In der vollen Aula des Barntruper Gymnasiums ist es mucksmäuschenstill, als Ernst Schröder heraufbeschwört, was ihm bis heute in den Knochen sitzt: Bomben auf Barntrup. Mit vier anderen Vertretern seiner Generation lässt er die Oberstufenschüler teilhaben an seinen Erinnerungen.

Sie alle sind Kinder, als das Grauen für sie greifbar wird: Elfriede Dufki und Ernst Schröder erleben den Krieg und sein Ende im heimatlichen Barntrup, während Prof. Dr. Paul Harff, Martin Böttcher und Edmund Wrede die Wirren der Flucht aus dem Osten überstehen. Ergreifend beginnt Ernst Schröder den Reigen der Erzählungen aus Tagen, die Schüler sich heute kaum vorstellen können: "Ich wusste vor Angst und Schrecken nicht, wo ich hin sollte, als die Tiefflieger kamen." Der damals achtjährige Pimpf versteckt sich im Stadtpark unter einem Busch: "Da ging plötzlich direkt vor mir eine Salve aus einem Maschinengewehr in die Erde." Der Junge rennt um sein Leben, sieht Bomben fallen: "Ich sah die Fontäne nach dem Einschlag." Irgendwo winselt ein Hund vor Angst. Ein paar hundert Meter weiter hat Elfriede Dufki gerade Kuchenteig geknetet, als die Tiefflieger kommen. Die Familie flüchtet in den Keller, Geröll und Ziegel knallen auf die Kellerluke, Häuser zerbersten. "Noch am Vortag kreiste ein Aufklärer über uns. Mein Vater ging zur Kommandantur, damit man die Militärfahrzeuge aus den Straßen in Deckung fuhr, aber sie haben ihn nur ausgelacht." Mitten im Angriff findet die Familie Schutz in einem Holzschober außerhalb der Innenstadt. 16 Menschen harren hier aus, bis ein couragierter Barntruper den amerikanischen Panzern mit einer weißen Flagge entgegen geht. "Er hat uns das Leben gerettet." Todesangst - die muss auch Dr. Paul Harff als sechseinhalbjähriges Kind erleben. Vom Osten geflüchtet, ist seine Familie bei einer Berliner Garnison untergekommen. Dass Mutter und Tante ein wenig russisch sprechen, wird ihnen fast zum Verhängnis, als die Rote Armee die Garnison einnimmt: "Sie hielten sie für Spione und stellten sie an die Wand. Meine Mutter bat darum, dass auch wir Kinder mit erschossen würden. Ich sehe noch die Gewehre auf uns gerichtet." Ein russischer Offizier macht dem Spuk gerade noch rechtzeitig ein Ende, die Familie überlebt. Überlebt hat auch Martin Böttcher die dreimonatige Flucht aus dem Osten gemeinsam mit Mutter und zwei Geschwistern. "Meine Mutter hat gesagt: Nehmt Eure Tornister. Was da rein passt, dürft Ihr mitnehmen. Das war nicht viel." Böttcher hat den Tornister immer noch, die Schüler können sich überzeugen, kriegen eine vage Vorstellung davon, wie es ist, sein Zuhause Knall auf Fall für immer verlassen zu müssen. So wie auch Edmund Wrede. Als Zwölfjähriger wird er im Januar 1945 mit seiner Familie auf der Flucht aus dem Osten von der russischen Armee überrollt. Er erlebt, wie die Russen einen deutschen Soldaten im Flüchtlingstreck erschießen und muss später helfen, Hunderte von Leichen zu verscharren. "Das war wohl mein schlimmstes Erlebnis."

Unvorstellbares Grauen - einen Hauch davon haben die Gymnasiasten aus erster Hand erahnen dürfen. Aber sie spüren offenbar, was es heißt, sich an so etwas zu erinnern, ja, darüber zu reden. Und quittieren den Mut mit langem, herzlichen Applaus. Lebendiger ist Geschichtsunterricht wohl selten.


blomberg@lz-online.de

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