Höxtersche Kreiszeitung / Neue Westfälische ,
04.04.2005 :
Erinnerungen an das Ende des Krieges / Chronistin Mechthild Meier ging zu Kommunion als die Panzer in Nieheim einrückten
Nieheim (kö). "Am 4. April, abends, standen feindliche Panzer vor Merlsheim. Der Major in Vörden ordnete die Besetzung der Panzersperre am Pömbsener Tor zwischen Hofmeisters und Witwe Stiewens Haus mit zwölf Panzerfäusten an. Die folgende Nacht wurde schlaflos und in angekleidetem Zustand verbracht." So ist in den ausführlichen Aufzeichnungen der Lehrerin Fräulein Franziska Filter nachzulesen, die diese der Stadt Nieheim zur Erinnerung überließ.
Akkurat geordnet liegt der Bericht von "Fräulein Filter" auf dem Tisch der Chronistin Mechthild Meier geb. Mönnikes. An das Kriegsende und an die vorgenannte Panzersperre kann sie sich selbst noch gut erinnern, denn als damals Neunjährige erlebte sie die kritischen Tage schon bewusst mit. "Unser Vater und Josef Walter gingen in der Nacht auf den 5. April heimlich zur Panzersperre und bauten sie ab", ist ihr die Angst der Familie im Gedächtnis geblieben. Sie selbst musste mit ihrer einjährigen Schwester im elterlichen Haus in der Siebenbergstraße etliche Stunden im Gewölbekeller (Runkelkeller) verbringen, da vom stets eingestellten Warnsender "Primadonna" schon seit dem 27. März 1945 starke Feindverbände gemeldet worden waren.
Auch in Nieheim hatten die Menschen mitbekommen, dass in Paderborn bei den schweren Bombenangriffen nahezu alles Leben ausgelöscht worden war. Manche der ausgebombten Paderborner Familien fanden in Nieheim eine Unterkunft und mussten dort mit ansehen, wie deutsche Truppen, zumeist aus alten Männern, Jünglingen von 15 und 16 Jahren und humpelnden Verwundeten bestehend, durch den Ort zogen.
In der Karwoche war das Bezirkskommando Duisburg nach Nieheim verlegt worden und auf Befehl der Kreisleitung der NSDAP sollten Frauen und Kinder in die Wälder der Umgebung geleitet werden. Alle Parteiakten wurden verbrannt. Die Stadt stand unter Hochspannung. Die Nachricht, dass Nieheim verteidigt werden sollte, versetzte die Menschen in Angst und Schrecken und sie begannen Lebensmittel und andere wichtige Gegenstände aus der Stadt zu schaffen. "Wer bei Annäherung des Feindes die weiße Fahne hisst oder sich dem Volkssturm widersetzt, wird mit seiner Sippe ausgerottet" lautete ein Befehl des Landrats vom Karsamstag. Als Haupttreiber der Verteidigungsstrategie galt ein SS-Oberst aus Duisburg. Während weitere entkräftete deutsche Soldaten durch die Stadt zogen, wurden die Verwundeten und vor Hunger und Entbehrung zusammenbrechenden Soldaten wie selbstverständlich von den Frauen versorgt. "Vielleicht in dem Gedanken an den Gatten oder Sohn, die irgendwo in weiter Ferne an eine Tür klopften wie diese", hat Franziska Filter in ihren Aufzeichnungen festgehalten.
"Als Kommunionkind musste ich damals regelmäßig zur Kirche", erinnert sich auch Mechthild Meier, der die vielen deutschen Soldaten im Gedächtnis geblieben sind, die in den Gottesdiensten zur Kommunionbank drängten.
Als der unbelehrbare SS-Major mit seiner Einheit abgezogen wurde, hielt man sich in Nieheim schon nicht mehr an einen Befehl des HJ-Bannes Höxter, in dem alle 14- und 15-jährigen Hitlerjungen aufgefordert wurden, sich abmarschfertig zu machen. Die verzweifelten Eltern sorgten dafür, dass niemand mehr diesem unsinnigen Befehl folgte.
Wegen der drohenden Gefahr hatte der Pfarrer, Geistl. Rat Wolf, die Erstkommunion, bei der auch Mechthild Mönnikes im weißen Kleidchen am Altar stand, auf den Ostermontag vorverlegt. Bei den Kommunionfeiern saßen in einigen Familien die Angehörigen in Alltagskleidern, weil sie befürchteten, sich jeden Augenblick, gegen was auch immer, zur Wehr setzen zu müssen.
Der nächste Tag brachte eine freudige Überraschung, denn die riesigen, in der Schützenhalle lagernden Textilbestände aus dem "Hilfszug Dr. Goebbels" wurden von der Stadt Nieheim übernommen und den Textilgeschäften zur Verfügung gestellt.
Am folgenden 4. April erhielt man in Nieheim die Nachricht, dass feindliche Panzer vor Merlsheim stünden und es erfolgte die eingangs erwähnte Besetzung der Panzersperre. Dass sie, wie Fräulein Filter niederschrieb, von mutigen Männern nachts um 2 Uhr unbrauchbar gemacht wurde, verhinderte nicht weiteres Kampfgeschehen, denn gegen 5 Uhr ließ der Abschnittskommandant von Vörden 35 Mann einmarschieren, die sich auf mehrere Scheunen verteilten. Gegen 8 Uhr griffen deutsche Soldaten erste Panzer an und die Gottesdienstbesucher wurden aufgefordert, die Kirche schnell zu verlassen. Das Leben auf den Straßen erlosch und wenig später kamen erste Verwundete in die Stadt. Im Rathauskeller wurden sie, so gut es ging, von Laienhelferinnen versorgt.
Da die Bürger noch die schreckliche Drohung des Landrates im Ohr hatten, wagten sie es nicht, weiße Fahnen zu hissen. Die Panzerbesatzungen rollten deshalb solange schießend durch die Stadt, bis plötzlich ein amerikanischer Soldat sein Gewehr auf die Insassen des Rathauskellers richtete. Die Menschen ergaben sich widerstandslos und eine Laienhelferin übergab dem stellvertretenden Amtsbürgermeister ein an einem Besenstiel befestigtes weißes Tuch, das er aus dem Rathausfenster hielt. Daraufhin wurden die Schießereien sofort eingestellt.
Um 10 Uhr übernahm der amerikanische Truppenkommandant das Rathaus. Zwischen 11 und 14 Uhr ließen die Amerikaner die Bevölkerung auf die riesigen Textilbestände in der Schützenhalle los und bewirkten damit eine "unblutige Schlacht", schreibt Franziska Filter. Manche sollen sich 40 Anzüge und 60 Kleider "organisiert" und kräftig bereichert haben. In Mechthild Meiers Gedächtnis brannten sich derweil Bilder von Soldaten ein, die mit Maschinengewehren an jeder Ecke standen. Und es waren die riesigen, dröhnenden Panzer, denen sie überall begegnete, wenn sie als Kommunionkind zur Kirche musste.
Es waren auch die ersten Farbigen ihres Lebens, die sie zu Gesicht bekam und die ihr Angst machten. Doch schon bald entdeckte sie, dass gerade diese freundlich zu den Kindern waren und ihnen Schokolade schenkten. "Als wir bei der Fronleichnamsprozession mit unseren weißen Kleidern als Engelchen mitgingen, waren die regelrecht entzückt und gerührt", hat sie die "Neger" wie Fräulein Filter die farbigen GIs noch nannte, in guter Erinnerung behalten.
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