Deister- und Weserzeitung ,
04.04.2005 :
Flucht zum Finkenborn und in die Süntelwälder / Angst vor dem Angriff der Amerikaner / Windeln als weiße Fahnen / Tieffliegerangriff auf der Straße von Pötzen
Von Wolfhard F. Truchseß
Hameln. Anfang April verbreitete sich in Hameln die Nachricht, dass die Stadt zur Festung erklärt worden sei und verteidigt werden sollte. Viele Menschen zogen es danach vor, die Stadt zu verlassen, die einen in Richtung Süntel, andere auf den Finkenborn oder den Riepen. Auch Familie Klages machte sich auf den Weg. Sie fand Unterschlupf im Gasthaus Finkenborn, der sich im Lauf des Tages zunehmend füllte. Jutta Steging, die Tochter von Dr. Richard Klages, berichtet, dass für die vielen Menschen bei weitem nicht genug Betten und Matratzen da gewesen seien. "Die nächsten Nächte verbrachten wir zu zweit in einem Bett." Von ferne hörten die Menschen auf dem Finkenborn die Panzerketten rasseln - es waren die Amerikaner, die am Abend des 4. April in Groß Berkel pünktlich um 18 Uhr ihr Lager aufschlugen. Auch Marga Dietz, die Tochter des Eisenwarenhändlers Paul Lorenz, hatte mit der Familie das Haus an der Pyrmonter Straße verlassen, weil die Brücken über die Weser gesprengt werden sollten - das Haus lag voll im Bereich der zu erwartenden Druckwellen. Hatte die Familie Lorenz bei Luftalarm sonst Schutz im Rattentunnel an der Pyrmonter Straße gesucht, zog es sie jetzt auf den Riepen. Gemeinsam mit zwei anderen Familien, insgesamt wohl an die 15 Personen, wie Marga Dietz sich erinnert, konnte ein Bauwagen ergattert werden, der als Versteck dienen sollte. Um die friedlichen Absichten der Menschen in der Notbehausung zu signalisieren, "haben wir die Windeln meines zweijährigen Bruders Bernd als weiße Fahnen rund um den Bauwagen aufgehängt". Als Familie Lorenz am 7. April wieder ihr Haus zurückkehrte, waren die Räume ein einziges Meer von Scherben. Wie erwartet, hatte die Sprengung der Brücken "ganze Arbeit" geleistet.
Am Gasthaus Finkenborn waren unterdessen die Amerikaner aufgetaucht. "Hands up!", lautete der Befehl für alle, die sich dort befanden. Und: "Sind Soldaten hier?" Nein, hier waren nur Frauen und Kinder und paar ältere Männer, erinnert sich Jutta Steging. So seien sie alle nicht lange von den Amerikanern behelligt worden. Die hatten Wichtigeres zu tun. Sie wollten Hameln einnehmen.
Aus diesen Tagen stammt auch der Bericht von Goswin Steimann, dessen Eltern sich mit ihm und seinem jüngerem Bruder vor der befürchteten Bombardierung Hamelns in Sicherheit brachten: "Die vollständige Zerstörung des Gesundheitsamtes und der Villa Twelmeyer war uns in frischer und schrecklicher Erinnerung. Mit Fahrrädern und einem kleinen Vorrat an Wäsche und Getränken verließen wir die Stadt Richtung Pötzener Warte. Dort bogen wir zum Süntelwald ab, um unser kleines Wochenendhäuschen zu erreichen. Wir übernachteten und wurden am nächsten Morgen durch das Jaulen zweier Tiefflieger und das Rattern ihrer Bordwaffen geweckt. Auf der Straße von Pötzen herauf sahen wir eine Kolonne deutscher Wehrmachtsfahrzeuge, die im Sünteltal Schutz suchen wollte. Sie wurden von den beiden Piloten, unzählige Male von Westen nach Osten und nach einer Wende von Osten nach Westen fliegend, zusammengeschossen. Aus den Fahrzeugen flohen immer mehr Soldaten, die auch in unsere Richtung kamen. Wir kauerten dicht gedrängt in einem kleinen Erdloch und gerieten zusammen mit den immer näher kommenden Soldaten ebenfalls unter Beschuss. Zum Abschluss gab es zwei Bomben-Detonationen und das Geprassel von Erdklumpen auf dem Hüttendach. Dann wurde es allmählich stiller.
In unserem Versteck hielt es uns keine Sekunde länger. Wie die Soldaten flohen wir in den Wald. Weil alles ruhig blieb, kehrten wir gegen Abend zu unserem Häuschen zurück, aber unsere Vorräte und Fahrräder waren inzwischen gestohlen. Als letzte Möglichkeit blieb die uns gut bekannte Familie Helmdach in Pötzen, die damals und auch später in den schweren Nachkriegsjahren immer wieder half.
Die Nachricht kam, dass Hameln kapituliert hatte, und mit ihr eine unbeschreibliche Erleichterung. Es war ein sehr sonniger, schon warmer Apriltag, und wir gingen zu Fuß nach Hause. Am Schießstand an der Höhe wartete überraschend eine große Schar von vornehmlich Frauen und Kindern. Amerikanische Soldaten - es war unsere erste Begegnung mit ihnen - holten die wenigen Männer heraus und verschwanden mit ihnen in dem kleinen Haus, so auch mit meinem Vater. Erleichterung beschreibt nur unzureichend unsere Empfindungen, als er wieder heraus kam und mit uns die weitere Heimkehr antreten durfte. Dann stand es da, unser Haus, fast vollkommen unversehrt. Nur eine Granate hatte das Treppenhaus getroffen."
Lesen Sie morgen: Die Sprengung der Brücken und der erste Tag des Beschusses der Stadt.
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