Neue Westfälische ,
02.04.2005 :
Die Stunden der Anarchie / Gertrud Wasinski erinnert sich an die Plünderungen am 2. April 1945 in Gütersloh
Von Frank Beineke
Gütersloh. Gütersloh zur Stunde Null. Die NW-Lokalredaktion lässt Zeitzeugen zu Wort kommen: Wie haben sie das Kriegsende vor 60 Jahren miterlebt, wie haben sie die schwere Zeit des Wiederaufbaus mit Wohnungs- und Lebensmittelmangel gemeistert? In unserer heutigen Folge schildert Gertrud Wasinski (80), wie sie den 2. April 1945 erlebt hat. Denn vor genau 60 Jahren war der Tag der Übergabe Güterslohs an die Alliierten.
"Eigentlich will man sich gar nicht mehr an diese schreckliche Zeit erinnern", betont Gertrud Wasinski, "aber das funktioniert nicht. Es sind Ereignisse, die ich nicht vergessen kann und die mich sehr geprägt haben."
Als Arbeiterin in der Gütersloher Bandfabrik Güth&Wolf erlebt sie die letzten Monate, Wochen und Tage des Zweiten Weltkriegs. Eine Zeit, die geprägt ist von ständiger Angst – der Angst vor dem nächsten Bombenangriff, der Angst vor dem, was auf Gütersloh zukommt.
"Die Front rückte näher und näher, der Gefechtslärm wurde immer lauter", berichtet Gertrud Wasinski. Am Nachmittag des 2. April 1945 wird die Stadt an die 9. US-Armee übergeben. Ein Tag, an den sich Gertrud Wasinski, die damals noch Schwarzer hieß, genau erinnern kann.
Mit ihrem Vater, ihrer Mutter und mit drei ihrer vier Geschwister (ihr ältester Bruder kämpft noch an der Front) geht sie vormittags ins Festhochamt in die Pankratiuskirche – es ist Ostermontag. "Das Osterfest 1945 haben wir sehr bewusst gefeiert, der Glaube war eine wichtige Stütze", erinnert sich die heute 80-Jährige, "und wer – außer Gott – konnte uns in dieser Situation noch helfen?"
Von der unmittelbar bevorstehenden Übergabe der Stadt erfahren die im Hellweg wohnenden Schwarzers nach dem Gottesdienst. Die Meldung macht rasend schnell die Runde. Der 2. April 1945 wird in Gütersloh zum Tag der Anarchie, die Plünderungen nehmen ihren Lauf. "Es gab regelrecht Tumulte.
Die Menschen versuchten, sich möglichst viel fürs eigene Überleben zu sichern", sagt Gertrud Wasinski. Auch ihre Familie ist bis in den späten Abend hinein auf der Suche nach Kleidung und Lebensmitteln. Ihr erstes Ziel ist dabei die von der Wehrmacht verlassene Nachrichten-Kaserne in der Verler Straße. Weit über 1.000 Plünderer tümmeln sich auf dem Gelände.
"Da wurde alles weggeholt, was nicht niet- und nagelfest war", erläutert Gertrud Wasinski und erinnert sich daran, wie ihr Vater bündelweise Schuhe und Textilien vom Kasernen-Gelände schleppte. "Anfangs habe ich mich für seine Gier geschämt", blickt die gebürtige Gütersloherin zurück, "aber letztlich hat er dies alles nur getan, um seine Familie und seine fünf Kinder durchzubringen."
Plünderungen gibt es am Ostermontag vor 60 Jahren zudem unter anderem in der Fleischfabrik Vogt&Wolf. "Da hat praktisch jeder mitgemacht. Sogar Polizisten und Soldaten waren dabei", beteuert Gertrud Wasinski. Erst am folgenden Tag bekommen die Besatzungstruppen die chaotische Situation halbwegs in den Griff.
Plünderern drohen fortan schwere Strafen. Außerdem ergehen Anordnungen, die bereits erbeuteten Gegenstände zurückzugeben. "Mein Vater hat daraufhin Kleidung und Konserven vergraben. Wir hatten riesige Angst, entdeckt zu werden", sagt Gertrud Wasinski und führt an, dass die Not in den Folgemonaten immens groß gewesen sei.
Der 80-Jährigen fällt es mitunter sichtlich schwer, von dieser Zeit zu reden – beispielsweise, wenn es um das Thema Bombenangriffe geht. "Diese Angst im Luftschutzkeller war unbeschreiblich. Mein kleiner Bruder saß oft zitternd und schreiend neben mir – und ich wusste nicht, wie ich ihm helfen sollte", sagt Gertrud Wasinski.
Eine besonders bedrohliche Situation erlebt die damals 20-Jährige bei der Bombardierung des Bürogebäudes von Güth&Wolf. Doch mit der Gütersloher Bandfabrik verbindet sie nicht nur die Bilder und Eindrücke dieses schrecklichen Ereignisses, sondern auch die Erinnerung an eine tiefe Freundschaft, die heute noch währt. Denn bei Güth&Wolf lernt Gertrud Wasinski im Sommer 1942 die russische Zwangsarbeiterin Anna Tokar kennen.
Die damals 15-Jährige aus Taganrog an der Schwarzmeerküste und die junge Gütersloherin arbeiten Seite an Seite in der Nähabteilung – und pflegen trotz strikter Kontaktverbote eine intensive Freundschaft. "Ich habe dieses Mädchen wahnsinnig geliebt", sagt Gertrud Wasinski, die den Juni 1997 nicht vergessen wird. Denn vor knapp acht Jahren feierten Gertrud und Anna ein Wiedersehen.
Güth&Wolf-Seniorchef Heinrich R. Wolf hatte Anna Tokar, die damals auch als Kindermädchen im Haushalt der Unternehmerfamilie half, nach Gütersloh eingeladen, drei weitere Ostwestfalen-Trips folgten. Besuche, auf die Gertrud Wasinski mit Tränen der Rührung in den Augen zurückblickt: "Ich bin überglücklich, dass ich Anna wiedersehen konnte."
02./03.04.2005
lok-red.guetersloh@neue-westfaelische.de
|