www.hiergeblieben.de

Deister- und Weserzeitung , 30.03.2005 :

Eine Reise nach Hameln - der Front entgegen / Kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner kehrte Studienrat Brandes zum Osterurlaub heim

Von Bernhard Gelderblom

Hameln. "Das Osterfest naht. Der englische Sender meldet, dass amerikanische Truppen bereits vor Kassel ständen. Wenn ich noch nach Hause will, muss ich sofort Urlaub beantragen." So notierte es Albert Brandes vor 60 Jahren. Der Studienrat am Hamelner Gymnasium für Jungen, dem heutigen Schiller-Gymnasium, war mit 30 seiner Schüler an eine Flakstellung am Deich bei Brunsbüttel abkommandiert; Brandes war für ihren Unterricht zuständig (vgl. Dewezet vom 24. März 2005). Kurz vor Kriegsende gelingt es Brandes, einen Urlaubsschein für eine Fahrt nach Hameln zu bekommen. "An den Festtagen fällt der Unterricht aus", schildert der Pädagoge. "Ich lasse mir einen Fahrschein ausstellen und verabschiede mich mit den Worten: 'Auf Wiedersehen' von 'meinem' Batteriechef, woran wir beide wohl kaum glauben." Sein Bericht im Wortlaut:

"Nach einem ermüdenden Marsch auf aufgeweichten Feldwegen und verdreckten Pfaden besteige ich in Ostermoor den Zug. In Itzehoe heulen die Sirenen, links und rechts der Geleise brennen die Häuser und Scheunen, in der Ferne ist der Himmel blutrot. Während die feindlichen Geschwader abziehen, stottert sich unser Zug Kilometer für Kilometer mit aufregender Langsamkeit durch das gequälte Land. Da man wegen Kohlenmangels Briketts heizt, kennzeichnet ein Wirbel glühender Funken aus dem Schornstein der Lokomotive weithin unseren Weg. Von einem Angriff englischer Tiefflieger bleiben wir nur verschont, weil plötzlich ein wolkenbruchartiger Regen einsetzt, der uns gnädig in seinen schützenden Mantel hüllt.

Gegen 11 Uhr abends sind wir in Eidelstedt. Hier endet der Zug. Denn der Endbahnhof ist am gestrigen Tage zerstört. Hunderte von Oster urlaubern drängen sich auf den schmalen Bahnsteigen und sehen sich hilflos nach Hilfe um, wo es keine Hilfe gibt. Ich frage einen der Beamten, ob nicht irgendwo in der Nähe ein S-Bahnhof sei, wo man weiterkäme. Er zeigt mit der Hand auf einen etwa 500 Meter entfernten Bahndamm. Im Laufschritt erreiche ich ihn, klettere hinauf und komme gerade in dem Augenblick auf dem Bahnsteig an, wo der letzte Zug nach Hamburg einläuft.

Auf dem Hauptbahnhof herrscht ein Zustand der Anarchie. Wenn ich mit irgendeinem Vorortzug doch wenigstens bis Harburg käme! Ich stürze von einem Bahnsteig zum anderen und erfahre schließlich durch einen glücklichen Zufall, dass in einigen Minuten der D-Zug nach Hannover mit vierstündiger Verspätung einlaufe. Aber der sei nur für Militär. Mein von der Batterie ausgestellter Fahrschein legitimiert mich als Heeresangehörigen. Und ich finde auch einen Platz.

Nach ein paar Minuten fährt der Zug ab und kommt wie ein Wunder glücklich und ohne Zwischenfall über die Elbbrücken. In Lüneburg heulen die Sirenen schon wieder. Wir halten, fahren weiter, und nach ein paar Minuten halten wir wieder. Die ganze Nacht hindurch dröhnen die feindlichen Bombengeschwader über uns hinweg. Wenn sie nahen, bleibt der Zug auf offener Strecke stehen, jeden Augenblick auf einen Angriff gefasst. Ein junger Leutnant, der in seiner Nervosität sich eine Zigarette anzünden will, wird beim Aufflammen des Streichholzes fast verprügelt.

Als der Morgen graut, sind wir in Unterlüß. Da der Bahnhof von Hannover unpassierbar sei, wird der Zug nach Lehrte umgeleitet. Um 7 Uhr treffen wir dort ein. Tausende von Landsern schieben sich über die Geleise oder liegen apathisch in den Wartesälen und Tunneln, während am Himmel schon wieder die weißen Tragflächen feindlicher Flugzeuge in den Strahlen der Morgensonne schimmern.

Wann ein Zug nach Hameln fahre? Ratlos zuckt der Beamte die Achseln. Da Bahnhöfe beliebte Angriffsziele für Bomber sind, dränge ich fort. Ein Weichensteller zeigt auf einen Schornstein in der Ferne - dort sei eine Bushaltestelle. Ich steige über Geleise und Schranken, Hecken und Mauern und finde schließlich am Ausgang der Stadt ein Wirtshaus, dessen Fenster eine Kellnerin putzt. Der Bus fahre schon seit einer Woche nicht mehr. Aber hier kämen viele Autos und Lkw vorbei, vielleicht nähme uns einer von ihnen mit. Dann gibt sie mir eine Tasse Kaffee.

Ein mitleidiger Fahrer bringt mich bis Algermissen, wo ich vor Fliegern in einen Eisenbahntunnel flüchte. Als ich den Schalterbeamten nach der Möglichkeit einer Weiterfahrt frage, zuckt er apathisch die Achseln. Ich fahre ihn an: er habe doch ein Telefon! Er solle gefälligst anrufen! Völlig unbeeindruckt tut er es. Und wirklich - in zehn Minuten läuft ein Güterzug in Richtung Hildesheim ein, dem ein paar Personenwagen angehängt sind. Ich steige ein, die Abteile sind leer.

Mit verzweifelter Langsamkeit quält sich der Zug weiter vorbei an Munitionswagen, die auf offener Strecke abgestellt sind, und über Brücken, die Spuren von Beschuss zeigen. Ich stehe am Fenster und blicke in die menschenleere Landschaft. Da kommt ein Tiefflieger direkt auf uns zu. Schon glaube ich das Knattern des Maschinengewehrs zu hören, da zeigt sich, dass es ein Deutscher ist - einer der wenigen, die sich noch aus ihren Hangars wagen.

Endlich sind wir in Hildesheim. Die Stadt brennt. Im Tunnel liegen, auf Stroh gebettet, Verwundete und Sterbende, mit blassen, vom Tode gezeichneten Gesichtern, in den Augen das Grauen - Frauen, Kinder, Greise.

Der nächste Zug nach Hameln fährt erst um 18 Uhr. So lange wollen wir nicht warten. Über Trümmer, vorbei an eingestürzten Häusern, erreichen wir die Ausfallstraße nach Himmelsthür. Ich habe Glück. Nach kurzem Warten kommt ein Wehrmachtsauto vorbei, das Panzerfäuste nach vorne bringt. Ich bitteden Fahrer, mich mitzunehmen und weise mich aus. Da ich ortskundig bin, darf ich einsteigen, zumal ich mit einer Schachtel Zigaretten nachhelfe. Die Landstraßen sind leer. Überall hängen an den Dorfausgängen gelbe Fahnen, die anzeigen, dass Tiefflieger unterwegs sind, die die Wege mit ihren Maschinengewehren abharken. So brausen wir los. Auf der Straßenkreuzung in Elze hat eine Bombe fürchterliche Verwüstungen angerichtet. Osterwald, Voldagsen - wir sind allein auf weiter Flur. Zügig geht es voran. In Behrensen sperrt ein zusammengebrochener, hoch mit Hausrat bepackter Wagen die Straße, wohl das Mobiliar irgend eines Etappenhengstes, das er sich im Laufe der Jahre überall zusammen gestohlen hat. Der Mann ist mitsamt den Pferden geflüchtet. Wir packen alle Mann zu und machen Platz für eine schmale Durchfahrt.

Hinter einer Wegbiegung wird der Klüt sichtbar. In den Straßen Hamelns drängt sich der Verkehr. Zurückflutender Tross zeigt die Nähe der Front. Am Brückenkopf steige ich aus. In fünf Minuten bin ich in der Weberstraße. Die Familie ist nicht daheim, Horst in einem HJ-Lager, wo der Werwolf aufgezogen und darüber beraten wird,ob man im Süntel den Kampf bis aufs Messer fortsetzen soll.

Die Amerikaner stehen bereits bei Helpensen. Halb ausgezogen werfe ich mich abends auf mein Bett und versinke in einen unruhigen Halbschlaf, während die am Klüthang aufgefahrenen Geschütze der Amerikaner von Zeit zu Zeit aufbellen und das tiefe Gebrumm der herandröhnenden feindlichen Panzer die Luft durchzittert. Morgens gegen 5 Uhr ein furchtbarer Knall: Die Weserbrücke wird gesprengt. Faustdicke Brocken fliegen bis in unsere Nähe. Ich gehe in die Küche und mache mir eine Tasse Kaffee. Auf den Stufen meines Hauses sitzend, sehe ich, wie die ersten amerikanischen Soldaten, drei Mann, die MP in ihrer Hand, vom Klüt herkommend, in die Weberstraße einbiegen und einen verwundeten Landser, der, auf Krücken gestützt, über dieStraße humpelt, mit einer Kopfbewegung nach hinten weisen - finis germaniae."

Lesen Sie morgen: Der Gauleiter besucht Hameln


redaktion@dewezet.de

zurück