www.hiergeblieben.de

Lippische Landes-Zeitung , 25.03.2005 :

Die Kindersoldaten des Gauleiters / Zeitzeuge Martin Delker erinnert sich an die Geschehnisse zu Ostern vor 60 Jahren in Heiligenkirchen

Von Thorsten Engelhardt

Detmold/Grohnde. Es war das letzte Aufgebot. Jungen und alte Männer sollten in den Frühjahrstagen des Jahres 1945 das Nazi-Regime retten, das längst dem Untergang geweiht war. Nicht nur in Berlin traten sie dafür an, auch in Detmold. Einer von ihnen war Martin Delker. Als 15-jähriger Hitlerjunge musste er das Haus des Gauleiters und Reichsstatthalters in Lippe mitsamt dazu gehörigem "Führerbunker" verteidigen.

Heute lebt Martin Delker, ein gebürtiger Sonneborner, in Grohnde an der Weser. Schon seit längerer Zeit beschäftigt den freundlichen, weißhaarigen Mann die Suche nach der eigenen Vergangenheit. Eine Geschichte, die ein Licht auf das Erleben einer ganzen Generation wirft. Insbesondere die Ostertage des Jahres 1945 rund um seinen 16. Geburtstag am 5. April haben einen so nachhaltigen Eindruck hinterlassen, dass sie dem 75-Jährigen präzise im Gedächtnis sind.

Während die Alliierten sich Deutschland näherten, wurde der 15-jährige Hitlerjunge im November 1944 von seiner Ausbildungsstelle bei der Kreisverwaltung in Brake zu einer "Einsatzhundertschaft" der NS-Jugendorganisation auf den Detmolder Schützenberg eingezogen. "Ein Oberfeldwebel Gerlach und verwundete SS-Männer sollten uns da eine vormilitärische Ausbildung geben", beschreibt er. "Wir hatten alte, zwei Meter lange Beutegewehre und steckten in verschlissenen Wehrmachtsuniformen, die meist viel zu groß waren. So sollten wir den Krieg gewinnen."

Aufregung herrschte unter den Jungs, als im Januar 1945 ein "Wachkommando des Gauleiters" gebildet wurde. 20 Jugendliche, darunter auch Delker, wurden nach Heiligenkirchen-Friedrichshöhe abkommandiert. Dort hatte der Dr. Alfred Meyer, "Gauleiter" für den "Reichsgau Westfalen-Nord" und "Reichsstatthalter" in Lippe, in einer Villa ein Büro. Außerdem lebte in dem Haus die Familie Meyers, war am Bergrücken eine Funkstation aufgebaut und hinter dem herrschaftlichen, um 1905 herum gebauten Anwesen, ein Bunker in den Berg gemauert worden.

All das sollten die 20 Halbwüchsigen nun bewachen. Mit besseren Gewehren, angetan mit langen braunen Parteimänteln und abgeschirmt von der Bevölkerung. "Kontakt war uns verboten, wir durften mit niemandem sprechen", erinnert sich Delker.

"Wir waren von der Propaganda geprägt" Martin Delker

Unter diesen Gegebenheiten entwickelte sich für die Jungs ein merkwürdiges Verhältnis zur Familie des Gauleiters, der mit seiner Frau Dorothee, einer Pianistin und Klavierlehrerin, fünf Töchter hatte. Die älteste, Ilselore, war etwas älter als die Hitlerjungen. Martin Delker weiß nicht so recht, wie er das beschreiben soll. Auf der einen Seite habe sich bei den Heranwachsenden Stolz und Verantwortungsgefühl geregt, schließlich waren sie die Beschützer. Auf der anderen blieb eine Scheu vor der Familie. Eine Mischung aus Distanz und Vertraulichkeit angesichts des Schicksals, das sie für eine gewisse Zeit aneinander gekettet hatte.

Je näher die Front rückte, desto mehr machte sich Ratlosigkeit beim Wachkommando breit, weiß Delker. Auch ihm kamen Zweifel, ob die Kindertruppe in Uniform noch etwas ausrichten könnte. "Aber wir waren von der Propaganda geprägt. Immer wieder wurde uns eingedrillt: Ihr müsst durchhalten. Begeisterung habe ich nicht mehr verspürt, aber Gehorsam und Pflichterfüllung waren uns eingetrichtert worden."

Der 1. April 1945, Ostersonntag, war ein herrlicher Frühlingstag. An diesem Tag hörten die Kindersoldaten Geschützdonner aus dem Raum Paderborn und sahen versprengte Wehrmachtseinheiten auf dem Rückzug. Dann ereignete sich eine Szene, die Delker immer noch vor Augen steht. Meyer ließ das Wachkommando antreten und verabschiedete sich von der Truppe. Auch von seiner Familie nahm der lippische Ober-Nazi Abschied. "Es war eine gedrückte Stimmung im Garten der Villa. Auch Meyer war wohl wehmütig und hatte das Gefühl, seine Familie zum letzten Mal zu sehen", sagt Delker. Der Nazi-Karrierist setzte sich Richtung Obernkirchen ab, fünf Jungs sollten mit der Funkstation nachkommen. Delker war wieder dabei.

Noch am Nachmittag des gleichen Tages passierte der Trupp auf einem Lkw seinen Heimatort Sonneborn. Der Befehlshaber, ein Polizist, gewährte ihm einen Tag Urlaub. Doch die Chance, sich abzusetzen, ließ der Sonneborner verstreichen. Am 3. April tauchte der Junge mit Vaters Fahrrad wieder bei seiner Truppe in Obernkirchen auf. "Ich hatte doch einen Eid geschworen und Angst vor den Folgen einer Fahnenflucht", beschreibt er seine Motive.

"Lasst es nie wieder dazu kommen" Martin Delker

Der Gauleiter indes war nicht mehr aufzufinden. Seine jugendlichen Bewacher machten sich auf die Suche. Delker: "Plötzlich fuhren wir querfeldein zu einer Scheune. Dort sagte der Polizist: 'Jungs, der Gauleiter lebt nicht mehr. Was sollen wir hier noch. Wir lösen die Truppe auf, ihr seid von eurem Eid entbunden. Seht zu, dass ihr nach Hause kommt.'" Eine Entscheidung, die den Teenagern möglicherweise das Leben gerettet hat, denn Kameraden von ihnen fielen noch in Kämpfen in der Lüneburger Heide.

Die Fünf schlugen sich zur Weser durch. In Großenwieden setzte sie eine Frau abends mit einem Kahn über den Fluss, während bei Rinteln schon die Granaten einschlugen. Die Angst vor dem "Soldatenklau", den Feldgendarmen, saß ihnen zudem im Nacken. Nach dem Weserübergang marschierte Delker allein mit seinem Fahrrad Richtung Heimat. In einem einsamen Haus gewährte man ihm Unterschlupf für die Nacht, am nächsten Tag kam er in ein Dorf - immer noch in seiner Uniform. Bewohner des Ortes rüsteten ihn mit Zivilkleidung aus. "So bin ich dann mit einem weißen Tuch an meinem Fahrrad auf die erste amerikanische Panzerkolonne zugeradelt." Wohl war dem 15-Jährigen nicht, aber der erste Panzerkommandant winkte ihn lässig durch. Delker kurvte mitten durch die kämpfenden Reihen. Am Nachmittag des 5. April, seinem 16. Geburtstag, traf er wieder bei seiner Familie ein. Der Krieg war für ihn beendet.

Vorbei ist das Geschehene aber für Martin Delker noch nicht. "Wir Kinder sollten das Deutsche Reich retten. Und wir waren verblendet und dachten, das wird auch noch was." Aus der Erfahrung mit dem verbrecherischen Wahn der Nazis leitet der 75-Jährige eine Warnung ab. "Wenn ich heute wieder Nazis marschieren sehe, möchte ich den jungen Menschen sagen: Passt auf! Die Demokratie, die wir genießen dürfen, ist nicht selbstverständlich. Lasst es nie wieder zu solchen Verhältnissen kommen wie damals."

Es bleibt nachzutragen: Martin Delker beendete seine Ausbildung, übernahm die Verwaltung in Sonneborn, wurde später Diplom-Verwaltungswirt und Gemeindedirektor in Ahlten und dann für 21 Jahre in Emmerthal. Gauleiter Meyer, über dessen Aufenthaltsorte im April 1945 noch Unklarheit herrscht, war zumindest am 1. April in Detmold. Im Mai fand man eine Leiche bei Zersen (Hess.-Oldendorf), bei der es sich vermutlich um ihn handelte. Die Forschung geht von Selbstmord aus. Meyers Witwe zog später nach Soest. Die Villa, die Delker bewachte, kaufte 1955 der Extertaler Landwirt Vogt von dem Duisburger Chemiker Dr. Karl Mattenklodt. Vogt gab sie an seine Tochter Hildegard Meise weiter, nach ihrem Tode wurde deren Tochter Ingrid Arlt Eigentümerin. Die Familie bewohnt das Haus noch heute. Der Bunker im Garten existiert immer noch.


detmold@lz-online.de

zurück