Neue Westfälische ,
04.02.2002 :
Kein Klima für Rechtsradikale / Mehr als 8.000 Menschen folgen dem DGB-Aufruf und protestieren friedlich gegen den NPD-Aufmarsch in Bielefeld
Bielefeld. Es ist ein wunderschöner Frühlingstag. 17 Grad meldet Radio Bielefeld am Mittag. "Die Sonne scheint auf Gerechte und Ungerechte gleichzeitig", meint Roland Engels. Der Vorsitzende des DGB Kreises Bielefeld/Gütersloh führt einen der drei Sternmärsche an, bei denen mehr als 8.000 Menschen friedlich gegen den Aufmarsch der Neonazis in Bielefeld demonstrieren. "Eigentlich müsste über dem Ostbahnhof eine Gewitterwolke sein", stellt Engels mit einem Blick zum strahlend blauen Himmel fest. Am Ostbahnhof ist der Sammelpunkt der 1.700 Rechtsextremen, die gegen die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" aufmarschieren. 2.300 Polizisten und 470 Beamte des Bundesgrenzschutzes schirmen die verschiedenen Demonstrationszüge hermetisch voneinander ab. Mit Erfolg. Während die Neonazis bei ihrem Marsch dumpfe Parolen grölen, gerät die DGB-Veranstaltung zu einem Volksfest gegen Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit. Hier die Chronik eines ungewöhnlichen Tages:
06.00 Uhr, Ostbahnhof:
Frühstücken gegen Rechts. 100 Menschentreffen sich unter diesem Motto am Ostbahnhof, um zu protestieren, bestenfalls dem NPD-Sonderzug die Einfahrt zu versperren. Aber Polizisten haben das Gelände bereits gesichert.
10.36 Uhr, Werner-Bock-Straße:
Der Platz vor dem Wiesenbad füllt sich mit Menschen. Polizisten verteilen Zettel mit Tipps für die DGB-Demo-Teilnehmer und Buttons. Auf denen steht "Halt gegen Gewalt".
10.38 Uhr, Herbert-Hinnendahl-Straße:
Vor dem Hauptbahnhof super Stimmung bei Live-Musik. 800 Menschen, darunter viele Eltern mit Kindern sind dem DGB-Aufruf gefolgt.
11.00 Uhr, Historisches Museum:
Seit einer Stunde ist die Wehrmachtsausstellung geöffnet. Der Andrang ist groß.
11.28 Uhr, Ostbahnhof:
Die ersten zehn Rechtsextremisten erscheinen, darunter Stefan Luchs, Mitglied im NPD-Bundesvorstand und einer der Mitorganisatoren des NPD-Umzuges. Sie werden auf Waffen durchsucht. Kahlköpfe müssen verbotene Embleme abkleben.
11.40 Uhr, Wiesenbad:
Der Demo-Zug des DGB setzt sich in Bewegung. "Nazis raus" wird skandiert und "Ene meine miste, Nazis in die Kiste". Mit in der friedlichen Demo sind auch mehr als 100 Personen, die der autonomen, gewaltbereiten Szene zugerechnet werden.
12.05, Siegfriedplatz:
Der zweite DGB-Demonstrationszug startet. Zehn Minuten später beginnt der dritte Zug am Hauptbahnhof.
12.18 Uhr, Heeper Straße:
in der Nähe des AJZ (Arbeiter-Jugend-Zentrum): "Jeder muss sich nun entscheiden, wo er lang geht", heißt es aus einem AJZ-Lautsprecher-Bulli. Ein indirekter Aufruf, die Straße gerade aus weiter zu marschieren, um zum NPD-Aufmarsch zu gelangen.
12.25 Uhr, Hauptbahnhof:
Der Interregio 10015 fährt ein. 300 Rechte steigen von dort aus in den Sonderzug auf Gleis 1. Die Polizei hat mehr als 200 Beamte zusammengezogen.
12.50 Uhr, Heeper Straße:
Die mehr als 100 gewaltbereiten Demonstranten lösen sich aus dem Wiesenbad-Zug, versuchen die Absperrungen zu durchbrechen, gehen auf Polizisten los. Pfefferspray wird von den Beamten eingesetzt. Bilanz: vier verletzte Angreifer.
13.05, Ostbahnhof:
Die Zahl der Rechten schwillt auf rund 600 an. Aus einem blauen Passat, der mit vier Megaphonen ausgerüstet wurde, dröhnt – offenbar zur geistigen Erbauung "Schön blühn die Heckenrosen". Auf der Ladenfläche eines Pritschenwagens sitzen der bekannte Neonazi Christian Worch und der, aus der NPD ausgeschlossene Steffen Hupka, ein rechter Scharfmacher.
13.12 Uhr, Hauptbahnhof:
Der zweite Zug mit 800 Rechten aus dem Rheinland kommt an.
13.10 Uhr, Ostbahnhof:
Als Hupka zu einer Rede ansetzt, erntet er Buh-Rufe. Mit Marschmusik versuchen andere Rechtsextremisten Hupka zu übertönen. Tumultartige Szenen – scheinbar sind sich die NPDler nicht einig, wer nun das Recht zur Rede hat. Jetzt geht alles blitzschnell. Einige Nazis gehen auf Journalisten los, schlagen sie sogar, versuchen Reporter am Fotografieren zu hindern – von der handgreiflichen Diskussion soll nichts nach außen gelangen.
13.30 Uhr, Kirche St. Meinolf:
Ein Gedenkgottesdienst gegen die NPD-Demo beginnt; der rechte Zug wird später am Gotteshaus vorbeiziehen.
13.30 Uhr, Jahnplatz:
Kundgebung mit Rainer Wend (Bielefelder SPD-Bundestagsabgeordneter) und Annelie Buntenbach (MdB der Grünen). Wend fordert das Versprechen, dass Bielefeld "eine Stadt bleibt, in der sich Minderheiten wohlfühlen und von der Toleranz ausgeht". Buntenbach: "Diese Aufmärsche sind die Beleidigung der Opfer des Nationalsozialismus."
13.36 Uhr, Ostbahnhof:
Der NPD-Sonderzug rollt ein. Minuten später schwillt die braune Flut an. Mit dabei: Der Alt-Nazi Friedhelm Busse, dem die Polizei kurz zuvor Redeverbot erteilt hatte. Die Beamten sprechen später von 1.700 Rechtsradikalen. Spezialtrupps gegen "politisch motivierte Straftaten" und Staatsschützer, die sich mehr oder minder unauffällig um die Demo gruppiert haben, lassen die NPD-Demonstranten nicht aus den Augen. 15 Minuten später setzt sich der Zug in Bewegung. Anwohner haben überall Plakate gegen die Nazis aufgehängt. "Verpisst euch" und "Nazis raus" rufen sie.
14.15 Uhr, Jahnplatz:
Der DGB-Demonstrationszug startet Richtung Altstadt. Von dort geht es zum Rathaus.
15.00 Uhr, an der Kreuzung "Am Langen Kampe"/"Lohbreite":
Autonome Gewalttäter versuchen die Polizeiabsperrung zu durchbrechen, werfen mit Glasflaschen auf den NPD-Tross. Ein Fotograf, der für den Stern die Szenerie festhalten will, wird durch Glassplitter an der Hand verletzt. Immer wieder versuchen die gewaltbereiten Autonomen zum NPD-Umzug vorzudringen.
15.05 Uhr, Rathausvorplatz:
Abschlusskundgebungmit Ronald Engels (Regionalvorsitzender des DGB), Oberbürgermeister Eberhard David, Regine Burg (Bielefelder Superintendentin) und Ismail Tas vom Bielefelder Ausländerbeirat. Bei der Rede Davids gibt’s Pfiffe und "Heuchler"-Rufe. Der Oberbürgermeister setzt seine Rede fort, spricht sich gegen Rassismus und Antisemitismus aus.
15.35 Uhr, Bleichstraße:
Der NPD-Umzug stoppt. Redner versuchen sich in Geschichtsklitterung.
15.45 Uhr, Rathausvorplatz:
Die DGB-Demo ist beendet.
16.20 Uhr, Bleichstraße:
Bevor sich der NPD-Zug wieder in Bewegung setzt, ziehen Polizeibeamte den Neonazi Worch aus dem Verkehr. Er hatte verbotenen Parolen skandiert. Auch der Anmelder des NPD-Aufmarsches, Timo Pradel aus Bielefeld, war Minuten vorher wegen seiner Sympathiebekundung für die SS vom Aufmarsch ausgeschlossen worden. Beide erwartet ein Strafverfahren.
17.30 Uhr, Ostbahnhof:
Der Sonderzug rollt ein. Die Rechten verschwinden wieder in Richtung Hauptbahnhof. Gegen 18.20 Uhr ist die braune Flut verebbt. Bielefeld gehört wieder seinen Bürgern.
18.00 Uhr, Polizeipräsidium:
Auf dem Flur im ersten Stock ein festgenommener Kahlkopf, der, von Bereitschaftspolizisten eskortiert, Richtung Gewahrsam trottet. Polizeipräsident Erwin Südfeld und Einsatzleiter Heinrich Haubrock ziehen eine positive Bilanz. Kaum Ausschreitungen. Ob es am 2. März eine weitere Demo, die diesmal vom Rechtsradikalen Worch angemeldet wurde, geben wird, bleibt abzuwarten. Haubrock: "Wir werden die Vorfälle bei der NPD-Demo prüfen." Vielleicht reichen sie für ein Verbot des Aufmarsches aus.
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