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Deister- und Weserzeitung , 24.03.2005 :

Als Lehrer von Flakhelfern am Deich im Einsatz / Aus den Tagebuchnotizen des Hamelner Altphilologen und Schillerschul-Lehrers Albert Brandes

Von Albert Brandes

Hameln. Albert Brandes war Altphilologe und Studienrat am Gymnasium für Jungen, dem heutigen Schiller-Gymnasium. 30 Schüler des Gymnasiums waren als Flakhelfer an eine Stellung am Deich bei Brunsbüttel abkommandiert. Brandes war für den Unterricht dieser Jungen zuständig. Unter dem Titel "La Débâcle" beschreibt er in seinen Tagebuchnotizen eindrücklich die in den letzten Kriegstagen herrschende Stimmung sowie die bei den "Bonzen" der Partei herrschende Korruption:

"Seit Monaten liege ich in Altenkoog bei Brunsbüttel mit 30 Schülern unseres Gymnasiums, die als Flakhelfer an Geschützen stehen, die nicht schießen dürfen, weil Muni tionssperre ist, und die nicht treffen können, weil ihre Rohre ausgeleiert sind. Der Krieg geht seinem Ende entgegen. Tag für Tag fliegen feindliche Geschwader in unerreichbaren Höhen in majestätischer Ruhe über uns hinweg, ohne uns Beachtung zu schenken, und kehren, nachdem sie ihre Bomben auf unsere Städte abgeworfen haben, unbehelligt zurück. Die Jungens sind 16 bis 17 Jahre alt und haben, soweit der militärische Dienst es zulässt, täglich vier Stunden Unterricht, um auf das Abitur vorbereitet zu werden. Die vier Geschütze stehen auf einem breiten, lang gestreckten Damm, der irgendwann einmal zur Polderbildung aufgeworfen ist.

Die Mannschaften hausen in Stein- bzw. in Holzbaracken, durch deren dünne Wände der Wind zieht. Soweit sie auf Marschboden stehen, sind sie feucht. In ihnen liegen gitterartige Holzroste, da bei Dauerregen das Wasser hoch ansteigt. Es ist Ende März. Die Alliierten haben längst die deutschen Grenzen überschritten und marschieren konzentrisch auf Berlin los. Sie beherrschen den Luftraum, beschießen marschierende Kolonnen und voll besetzte Eisenbahnzüge mit Maschinengewehren und brechen letzten Widerstand, den ein paar verzweifelte Ortsgruppenleiter organisieren, während andere ihre Autos auftanken und ihr Zivil aus dem Schranke holen.

Ich unterrichte in einer ungeheizten Baracke, den Mantelkragen hochgeschlagen, die eine Hand in der Tasche, während die andere Caesars bellum Gallicum hält, wie meine Schüler, die frierend auf ihren Stühlen hocken und sich an dem Kampfgeist der nordischen Rasse aufwärmen. Denn der Wind dringt recht empfindlich durch die Fugen und durch die mit Pappdeckeln geflickten Fensterscheiben.

Ich wohne im nahen Dorfe. Ich habe bei der Vorstellung mit einem Blick die Situationüberschaut und mit Dank höflich auf ein Zimmer innerhalb der Batteriestellung verzichtet, unter Hinweis auf meine 58 Jahre, die einen ungestörten Schlaf verlangten.

Die Kohlen sind nötig zum Heizen des Versammlungsraumes, in dem der Lautsprecher steht, wo allabendlich die Männer ,Klumpfüßchens Märchenstunde' anhören (gemeint ist die tägliche Propagandasendung von Minister Goebbels).

Der Batteriechef ist ein Volksoffizier, der als alter Kämpfer und treuer Gefolgsmann des Führers trotz mangelhafter Schulbildung, charakterlichen Versagens und schlechter Manieren in diesen Rang erhoben ist und sich nun in seiner neuen Würde sonnt. Abitur? Davon hält er nichts. Mittags esse ich mit ihm zusammen. Das Gespräch schleppt sich hin, wirhaben uns wenig zu sagen. Zwischen uns liegen Welten. Als ich um Überweisung von Schaftstiefeln bitte, da ich oft auf meinen Wegen bis an die Knöchel im Schlamm versinke, wird mein Antrag von der Abteilung abgelehnt. Ich habe mich einmal abfällig über ihren Kommandeur geäußert, der aus den Batterien die Handwerker herausgezogen hat und sich von ihnen ein recht komfortables ,Behelfshaus' bauen lässt, das er nach siegreich beendetem Krieg mit seiner Familie beziehen will. Ich werde als Fremdkörper empfunden. Man war so schön unter sich. Aber da die Flakhelfer da sind und die fatalen ministeriellen Bestimmungen meinen Aufenthalt als Lehrer verlangen, kann man an mich nicht ran.

Einen meiner Schüler, der an Frostbeulen leidet und mit verbundenem Fuß durchs Lager humpelt, will ich nach Hause schicken. Der Arzt ist anderer Ansicht. Außerdem ist der Vater Fabrikant. Muttersöhnchen können nicht früh genug die Härte des Lebens zu spüren bekommen. Das verlange der Führer.

Das Weihnachtsfest wird in großem Rahmen gefeiert. Mit gelangweilten, zum Teil unzufriedenen Gesichtern finden die Männer sich ein. Ich habe mir seine aus den Schulungsbriefen der Partei stammenden Phrasen bisweilen an den Batterieabenden anhören müssen. Er ist 'gottgläubiger Atheist'. Beim 'Stille Nacht, heilige Nacht' kommt mir das Komische der Situation so recht zum Bewusstsein. Nachdem die Geschenke verteilt sind und die Rede auf den Führer und auf Großdeutschland in ein dreifaches Sieg-Heil! ausgeklungen ist, findet die Feier bald ein frühzeitiges Ende. Nach Kriegsschluss erfahre ich, dass dieser merkwürdige Führer 80 Fleischbüchsen im Dorf 'sichergestellt' habe, nach der Besetzung des Lagers durch die Engländer aber von einem seiner Leute angezeigt, vor ein Kriegsgericht gestellt und zu Gefängnis verurteilt sei. Diese Strafe sei dann umgewandelt worden in den Dienst auf einem Minenräumboot, das die von Minen verseuchten Flussmündungen zu säubern hatte - ein Himmelfahrtskommando, das viele Opfer gefordert hat. Für ihn begann jetzt der Ernst des Krieges, der für uns zu Ende war.

Als ich an einem fensterlosen Rundbau vorbeikomme, aus dessen Inneren ein fürchterliches Stöhnen dringt, erfahre ich von einem vorbeikommenden Unteroffizier, dass dort ein Russe eingesperrt sei, der seit 24 Stunden ohne jede Verpflegung bis an den Bauch in Wasser stehe, weil er seine Kameraden wegen der mangelhaften Verpflegung aufgehetzt habe.

Jeden Abend schalte ich den Soldatensender Calais ein, obwohl auf Abhören feindlicher Nachrichten die Todesstrafe steht. Eine Denunziation von Seiten meiner Wirtin brauche ich nicht zu fürchten, nachdem ich einmal gehört habe, wie sie sich ihrer Freundin gegenüber recht respektlos über 'den größten Feldherrn aller Zeiten' geäußert hat."

Lesen Sie am Samstag: Die Zerstörung der Villa Twelmeyer


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